Vertriebenenfunktionäre feiern Charta ohne Zweifel

JUBILÄUM Beim sechzigsten Jahrestag der „Charta der Heimatvertriebenen“ herrscht ein affirmativer Ton

Sogar ein Gedenktag ist im Gespräch

BERLIN taz | Ungeachtet der Kritik an der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ hat der Bund der Vertriebenen (BdV) am Donnerstag die Verkündung des umstrittenen Textes vor 60 Jahren gewürdigt. Erika Steinbach, Chefin des Bundes der Vertriebenen, schilderte in ihrer Rede in Stuttgart die Schrecken und das Elend nicht nur von Flucht und Vertreibung, sondern auch die Zurückweisung der Neuangekommenen durch die einheimische Bevölkerung. Steinbach sah es als Verdienst der Charta an, eine politische Radikalisierung der Vertriebenen verhindert und die Kräfte auf den deutschen und europäischen Aufbau orientiert zu haben.

Hingegen hatte zuvor der Erziehungswissenschaftler und Publizist Micha Brumlik in der taz kritisiert, mit der Charta werde „massive Geschichtsklitterung“ betrieben.

Dass in dem Dokument die Vorgeschichte der Vertreibung, also der Nazismus, nicht beim Namen genannt wurde, dass ferner die Vertriebenen sich als die am schwersten Betroffenen ansahen, sei, so Vertriebenenfunktionärin Steinbach, zeitbedingt gewesen. Sie interpretierte den Verzicht der Charta „auf Rache und Vergeltung“ als Angebot zur Versöhnung, wobei sie in einem Interview des Deutschlandfunks konzedierte, dass ein Recht auf Rache, auf das man verzichten könne, niemals legitim sei.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) stellte in seiner Rede den Satz der „Charta“, wonach die Völker und Menschen guten Willens Hand anlegen müssten, um aus „Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend einen Weg in eine bessere Zukunft zu finden“, in den Mittelpunkt seiner Interpretation, die die europäische Dimension des Dokuments hervorhob.

Der affirmative Grundton der Veranstaltung wurde allerdings nicht überall von den Betroffenen geteilt. Peter Becher, sudetendeutscher Herkunft und Geschäftsführer des Adalbert-Stifter-Vereins, sieht die Charta differenziert. Für positiv hält er nach wie vor deren Orientierung auf Europa und den Verzicht auf Vergeltung. Für von Anfang an unvertretbar hält Becher die Behauptung der „Charta“, die Vertriebenen seien vom Leid „am schwersten betroffen“ gewesen. Diese Aussage bedürfe dringend der Korrektur. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) als weiterer Redner hatte vor der Veranstaltung als Einziger für Unmut gesorgt. Er sprach sich wegen der Inflation der Gedenktage gegen einen weiteren für die „Charta“ aus. CHRISTIAN SEMLER