Psychotherapien in Deutschland: Die Scheu vor schweren Fällen

Krankenkassen kritisieren die Psychotherapeuten: Sie behandelten gern leichte Wehwehchen, harte Fälle schöben sie auf der Warteliste.

Wer es besonders dringend braucht, wartet hier manchmal besonders lang. Bild: dpa

BERLIN taz | Es ist ein Frontalangriff über fünf Seiten, verfasst vom Verband der Ersatzkassen (VdEK) und gerichtet gegen die 21.000 niedergelassenen Psychotherapeuten in Deutschland: Diese würden „bevorzugt leichte Fälle“ behandeln, anstatt den wirklich Bedürftigen mit schweren psychischen Störungen zu helfen. Sie „scheuten“ den „zeitlichen und finanziellen Aufwand einer Weiterqualifizierung“ zur Gruppentherapie, mit der mehr Patienten schneller geholfen werden könne.

Zudem böten sie Patienten nicht immer die Therapie an, „die zur Behandlung seiner Erkrankung sinnvoll und notwendig ist“. Das alles beklagt der VdEK in einem internen „Konzeptpapier zur Weiterentwicklung der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung“, das der taz vorliegt.

Die Folgen für die Versicherten seien gravierend: „Diese drei Faktoren tragen maßgeblich zur unbefriedigenden Wartezeitsituation bei.“ Viele Patienten bekämen erst nach Monaten ein Erstgespräch – und das bei einer bundesweit überdurchschnittlichen Versorgung mit Psychotherapeuten: „In über 80 Prozent der bisherigen Planungskreise liegt der Versorgungsgrad bei mehr als 130 Prozent“, heißt es in dem Papier. Die Wartezeiten belasteten die Versichertengemeinschaft: „Dies kann u. a. zu […] vermehrten stationären Aufenthalten sowie verlängerten Ausfallzeiten durch Arbeitsunfähigkeit führen.“

Der VdEK ist nicht irgendein Verein: Er ist die Interessenvertretung der sechs Ersatzkassen Barmer GEK, Techniker Krankenkasse, DAK-Gesundheit, KKH, HEK und hkk; mehr als 25 Millionen Menschen sind hier gesetzlich versichert. Entsprechend schwer wiegen die Vorwürfe: „Aus Sicht der Ersatzkassen müssen die bestehenden Strukturen und Kapazitäten effizienter ausgeschöpft werden.“

Umsetzen will der VdEK dies etwa durch „verstärkte Anreize zum Angebot von Gruppentherapie“. Die Nachbesetzung frei werdender Therapeutensitze sei entsprechend zu steuern, auch könnten „neue Ausbildungswege Abhilfe“ beim Mangel von Gruppentherapie schaffen.

Therapeuten weisen die Kritik zurück

Das bisherige Verfahren, nach dem die Kassen Gutachter bezahlen, die sodann über die Therapieform entscheiden, gehöre abgeschafft: „Mit ca. 27,7 Millionen Euro jährlichen Kosten für die GKV ist es teuer, bürokratisch und die Kosten-Nutzen-Relation ist unbekannt.“ Zudem sei es, weil „intransparent“, anfällig für Missbrauch: „Ablehnungsquoten von nur 3 bis 4 Prozent sprechen dafür, dass ein geschicktes Formulieren des Therapeuten […] bereits genügt, um den Gutachter in diesem rein schriftlichen Verfahren von der beantragten Therapie zu überzeugen.“

Künftig sollten die Gutachter durch „intelligente Koordinierungsstellen“ ersetzt werden, in denen die Kassen mehr als bisher mitzureden hätten.

Den größten Effekt aber verspricht sich der VdEK durch „Anreize im Vergütungssystem“. Dazu heißt es in dem Papier: „Gleichzeitig sollte bei der Höhe der Vergütung auch die Schwere der […] Störung […] stärkere Berücksichtigung finden. Auf diesem Wege kann die Entwicklung hin zur Behandlung eher leichterer Fälle gestoppt werden.“

Die Bundespsychotherapeutenkammer wies die Vorwürfe zurück. Nur ein Viertel der Patienten leide unter einer eher leichten psychischen Erkrankung, und das hätten die Kassen selbst unlängst festgestellt, empörte sich ein Sprecher: „Das ist ein geringer Anteil.“ Von einer bewussten Meidung schwerer Fälle könne keine Rede sein.

Gruppenpsychotherapie sei begrüßenswert, aber eben nicht für jeden, warnte der Sprecher: „Es ist keinesfalls ein Ansatz, mit dem man pauschal Einsparungen realisieren könnte. Wir befürchten allerdings, dass die Krankenkassen genau das beabsichtigen.“

Der Vorsitzende der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung, Dieter Best, nannte die Vorwürfe „aus der Luft gegriffen“. Ökonomische Anreize seien nur „zielführend“, wenn sie Therapeuten zusätzlich belohnten, etwa durch spezielle Förderung von Akutsprechstunden. Abstrafung dagegen sei kein probates Mittel der Verhaltenssteuerung.

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