„Uns droht Troika für alle“

KRISE Nicht nur die Südeuropäer sollen ihre Löhne kürzen. Auch für die anderen Länder habe die EU-Kommission solche Pläne, warnt der Tarifexperte Thorsten Schulten

■ Der promovierte Politikwissenschaftler, 46, ist Referent für Arbeits- und Tarifpolitik bei der gewerkschaftsnahen Böckler-Stiftung.

INTERVIEW EVA VÖLPEL

taz: Herr Schulten, Sie warnen, wir bekommen bald „Troika für alle“. In allen 27 EU-Ländern drohten seitens der EU-Kommission Eingriffe in die Tarifsysteme und Höhe der Löhne. Wie kommen Sie darauf?

Thorsten Schulten: Zuerst einmal muss man festhalten, dass die Lohnpolitik für die EU-Kommission die zentrale Rolle spielt, um die Schulden- und Wettbewerbskrise Europas, die die Kommission ausmacht, zu bekämpfen. Indem man die Löhne im öffentlichen Dienst einfriert oder senkt, will man die Haushalte der Krisenländern konsolidieren. Und über Lohnsenkungen insgesamt, auch in der Privatwirtschaft, sollen die Länder wettbewerbsfähiger werden.

Bisher hat die Troika aber nur den Krisenländern per Memorandum vorgeschrieben, was sie tun müssen, um Kredite zu erhalten.

Jenseits der Memoranden gibt es aber das sogenannte Europäische Semester. Das ist ein Zyklus, in dem die EU-Kommission allen Ländern jährlich neu empfiehlt, wie sie ihre Wirtschaftspolitik enger koordinieren sollten. Sowohl die aktuellen Vorstellungen von Kommissionspräsident José Manuel Barroso und von Ratspräsident Herman van Rompuy als auch von Angela Merkel zielen darauf, diese Vorschläge verbindlich zu machen. Merkel hat auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos klar gesagt: alle Mitgliedstaaten sollen sich zu Strukturreformen à la Europäisches Semester verpflichten.

Was soll reformiert werden?

Die Generaldirektion für Wirtschaft und Finanzen, die wichtigste Direktion der Europäische Kommission, die auch die Troika-Memorandenprogramme mitschreibt, listet in einem aktuellen Report sogenannte „beschäftigungsfreundliche Reformen“ auf. Sie sagt unter anderem ganz offen, wir wollen, dass die Tarifbindung und die allgemeine Lohnsetzungsmacht der Gewerkschaften reduziert wird.

Was bekommen Länder, die noch nicht in der Krise stecken, empfohlen?

Belgien beispielsweise hat ein sehr gut entwickeltes Flächentarifvertragssystem. Und sie indexieren ihre Löhne, das heißt, steigen die Preise über eine gewisse Marke an, werden die Löhne automatisch angehoben. Beides ist der Kommission ein Dorn im Auge. Sie fordert, die Indexierung abzuschaffen und empfiehlt, Betrieben sollte es möglich sein, vom System der Flächentarifverträge abzuweichen. Schweden wiederum empfiehlt die Kommission mehr Lohnspreizung nach unten. Bisher hat das Land eine sehr solidarische Lohnpolitik und versucht, den Niedriglohnbereich weitgehend durch Tarifverträge zu begrenzen.

Welche Folgen hat es, wenn Lohnpolitik nicht mehr übergreifend für eine Branche verhandelt wird, sondern nur noch in einzelnen Betrieben?

Die Tarifbindung geht drastisch zurück, immer mehr Beschäftigte stehen ohne Schutz eines Tarifvertrags da. Ganz deutlich sieht man das in Spanien. Von 2011 auf 2012 hat sich dort die Zahl der gültigen Tarifverträge von 4.337 auf 2.611 fast halbiert. Will man aber tarifliche Erfolge verallgemeinern, geht das nur über Flächentarifverträge. Die kann man leicht zerschlagen, aber es ist unglaublich schwierig, sie wieder aufzubauen.

Sie empfehlen, juristisch gegen solche Eingriffe vorzugehen?

■ Die Tagung: Die Hans-Böckler-Stiftung lädt diesen Montag und Dienstag in Berlin mit Ver.di zum Workshop „Krise der Europäischen Union. Wo bleibt das soziale Europa? Austeritätspolitik und ihre Folgen für die Tarifpolitik“.

■ Die TeilnehmerInnen: Wissenschaftler und Politiker diskutieren über die Demontage des sozialen Europa und Strategien der Gegenwehr.

www.boeckler.de

Ja. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO sagt ja mittlerweile, vieles, was man Griechenland und Spanien mit der Memorandenpolitik aufzwingt, verstößt gegen die ILO-Kernarbeitsnormen, die die Länder unterzeichnet haben, oder gegen die Tarifautonomie.

Aber EU-Kommission oder die Troika nehmen die ILO doch nicht wirklich ernst.

Das stimmt leider. Auch im Fall Portugals wurde nicht anerkannt, dass die Sparpolitik gegen Verfassungsnormen verstößt. Trotzdem muss man auch diesen Weg nutzen.

Und welchen noch?

Deutschland spielt die zentrale Rolle. Die Gewerkschaften hier müssen alles daran setzen, die deutsche Politik der europäischen Krisenbearbeitung zu verändern.