Kulturelle Intifada

POLITBÜHNE Das 2005 gegründete „Freedom Theatre“ aus dem Flüchtlingslager Dschenin tourt durch Europa. Traumatisierte palästinensische Kinder und Jugendliche sind die Darsteller. In Frankfurt am Main war nun Premiere

Ein Karussell aggressiver Leiber und ängstlicher Schreie, das sich immer schneller dreht

VON ESTHER BOLDT

Es radelt ein Clown durch die grauen Straßen von Dschenin. In all der Zerstörung und Tristesse zieht die fröhliche und etwas lächerliche Gestalt eine Reihe von Kindern hinter sich her, ins Freedom Theatre. Eine Szene aus einem Dokumentarfilm über das Kinder- und Jugendtheater im palästinensischen Flüchtlingslager Dschenin.

Gegründet wurde es 2005 von dem Schauspieler und Regisseur Juliano Mer Kahmis, Sohn der israelischen Künstlerin Arna Mer und des Palästinensers Saliba Khamis. Arna Mer gründete bereits 1987 ein Kindertheater in Dschenin, für ihre Arbeit erhielt sie 1993 den Alternativen Nobelpreis. Heute leben etwa 5.000 Kinder und Jugendliche in dem Flüchtlingslager, traumatisiert von der zweiten Intifada, der fortwährenden Besatzung und der Gewalterfahrung.

In aller Deutlichkeit

Das Freedom Theatre, erzählt Mer Khamis, möchte diesen Kindern und Jugendlichen ein Stück Menschlichkeit, Vernunft und Normalität zurückgeben, ihnen neue Fantasie- und Spielräume eröffnen.

Seit einem Jahr gibt es in Dschenin neben Aufführungen, Tanz-, Musik- und Zirkusgruppen auch eine Schauspielklasse. Zurzeit tourt sie – unterstützt von medico international und der Kinderkulturkarawane – mit ihrer ersten gemeinsam erarbeiteten Performance „Fragments of Palestine“ durch Deutschland und Österreich. In der Naxos-Halle in Frankfurt am Main war nun Deutschlandpremiere.

In schnellen, hart gegeneinander geschnittenen Szenen wird der Alltag im Flüchtlingslager gezeigt. Neun Darsteller, sieben Männer und zwei Frauen, übersetzen diesen in starke Bilder, die teilweise von schwer erträglicher Deutlichkeit sind. Die Männer tragen weiße Anzüge, die wie die Mauer der Westbank mit schwarzen Graffiti besprüht sind. Auf verbale Sprache wird weitgehend verzichtet, Tanz und Körpertheater sind die führenden Darstellungsmittel.

So feiern die Männer zu Trommelrhythmen ein Fest und umkreisen im nächsten Moment bedrohlich die Frauen. Das Ganze wird zu einem Karussell aggressiver Leiber und ängstlicher Schreie, das sich immer schneller dreht, bis die Männer plötzlich umfallen und die Frauen vor ihnen auf die Knie gehen, womit aus den Tätern Opfer werden, während die Frauen Opfer der patriarchalen Gesellschaft bleiben.

Die Geschlechterrollen sind in „Fragments of Palestine“ deutlich konturiert. Imponiergehabe, raumgreifende Tänze und Aufmärsche sind Männersache, den Frauen bleibt die Wehklage.

Ein Märtyrer wird zu Grabe getragen, doch der Tote kommt nicht zur Ruhe. Später liegt die Bühne voller Leichen, die immer wieder zum Gesang anheben: die gewaltsam Dahingerafften rufen sich singend ins Gedächtnis der Nachwelt. Es sind albtraumhafte und zugleich poetische Bilder von Tod und Schrecken, in rotes Licht getaucht und von ratternden Hubschrauberrotoren überzogen. Doch einen Augenblick später tanzen die Darsteller trotzig, zornig und kraftvoll zu Michael Jacksons Ungerechtigkeitshymne „They don’t care about us“.

Am Schluss bleiben ein Mann und eine Frau auf der Bühne, und während vom Band ein Gedicht des palästinensischen Dichters Mahmud Darwish erklingt, schauen sie sich fest in die Augen – ein Ende mit leise funkelndem Hoffnungsschimmer. So entwirft die 40-minütige temporeiche Performance ein ambivalentes Bild des Dscheniner Alltags und ermöglicht einen Einblick in eine Kultur, die gerade wieder entsteht, denn das Freedom Theatre ist die einzige Spielstätte im nördlichen Westjordanland.

Schauspieler statt Märtyrer

In der durch die Besatzung weitgehend zerstörten Kultur Palästinas leistet es Basisarbeit, wie Mer Khamis berichtet: Dschenin verfügt über keine Theatertradition, Schauspieler müssen hier ebenso herangezogen werden wie Zuschauer.

Im Dokumentarfilm, der im Vorfeld der Performance gezeigt wird, erzählen einige Jungen, dass sie Märtyrer werden wollten, bis sie mit dem Theaterspielen begonnen hätten: „Jetzt habe ich etwas gefunden, für das es sich zu leben lohnt.“ Und fügt ruhig hinzu: „Ich möchte eines natürlichen Todes sterben.“

Für die Mädchen, die im Flüchtlingslager kaum je ihr Haus verlassen dürfen, bietet das Theater eine Möglichkeit, rauszukommen. Batool Taleb, eine der beiden Schauspielerinnen aus „Fragments of Palestine“, ist seit 34 Jahren die erste Frau, die in der Westbank eine Bühne betritt. „Durch ihre Anwesenheit“, so Mer Khamis, „symbolisiert sie sehr viel. Sie ebnet den Weg für eine neue, freie Generation.“

Denn die Besatzung sei nicht nur eine militärische, sondern vor allem eine kulturelle, aus der es sich zu lösen gelte. Die nächste Intifada, sagt Mer Khamis, müsse eine kulturelle sein. Sein Freiheitstheater ist ein Schritt dorthin – wie der grellgelbe Clown in den Straßen Dschenins.