Im Ameisenhaufen rühren

OSTEUROPA 20 Jahre später: „After the Fall“ heißt ein europaweites Theaterprojekt des Goethe-Instituts über die Folgen des Mauerfalls. Eine Reise nach Krakau, wo Mikołaj Grabowski im alten Stary Teatr Andrzej Stasiuks „Warten auf den Türken“ uraufführte

■ Den besten Überblick über das Projekt „After the Fall“ liefert die Internetseite www.after-the-fall.eu. Dort stehen Porträts über die beteiligten Autoren und Theater, Videoausschnitte der bisherigen Inszenierungen sind zu sehen, und die fertigen Stücktexte sind in deutscher Übersetzung abrufbar: zum Beispiel „Antidot“ von Nicoleta Esinencu aus der Republik Moldau, „Warten auf den Türken“ von Andrzej Stasiuk aus Polen, „Der Fälscher“ von Goran Marković aus Serbien, „Die Mauer“ von Teodora Claudia Herghelegiu aus Rumänien, „Mousefuckers“ von Almir Imširević aus Bosnien-Herzegowina und „Für alle reicht es nicht“ des deutschen Autors Dirk Laucke. Dort findet man auch den Kalender der weiteren Aufführungen und geplanten Festivals.

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Über den großen Platz, der vom alten Krakauer Bahnhof und der neuen Shoppingmall Galeriea Krakowska gerahmt wird, fährt ein gepanzertes Fahrzeug: Tarnfarbenbemalung, Wachschutzlogos, kamerabewehrt, ungefähr so groß wie ein Kettcar. Surrend scannt das Auge der Kamera die Umgebung, Lichter blinken, ein Mann in Wachschutzuniform führt den Roboter mit einer Fernbedingung spazieren wie andere ihren Hund. Ist das ein Spielzeug? Eine Performance, die die Privatisierung des öffentlichen Raums karikiert? Oder ein echtes Instrument der Überwachung? Das ist für mich mangels polnischer Sprachkenntnisse nicht herauszubekommen.

Nach Krakau bin ich gekommen auf Einladung des Goethe-Instituts, um, mit deutscher Simultanübersetzung im Ohr, die Uraufführung eines Stücks von Andrzej Stasiuk „Warten auf den Türken“ am 19. Juni im alten Stary Teatr anzuschauen. Da treffen ein junger Wachschutzmann, der eigentlich von einem Leben in London träumt, und ein schon in Rente geschickter Grenzer aufeinander – an einem reichlich verlassenen Ort, irgendwo in den Beskiden, an der Grenze von Polen und der Slowakei. Edek, der alte Grenzer, kann nicht glauben, dass Patryk, der junge Wachmann, es nicht als Demütigung empfindet, für Fremde zu arbeiten, türkische Investoren, die irgendetwas Geheimnisvolles vorhaben. Patryk dagegen kann nicht begreifen, wieso Edek noch immer eine Vergangenheit verteidigt, in der Gummibärchen aus der DDR begehrte Schmugglerwaren waren.

„Andrzej Stasiuk hat die Systemwende fortwährend begleitet“, sagt Mikołaj Grabowski, Intendant des Stary Teatr und Regisseur des grotesken Einakters. Seine Inszenierung lässt in keinem Moment daran zweifeln, dass die Sehnsucht nach alten Ordnungsmustern auf vielen Momenten des Selbstbetrugs und der Verdrängung beruht – doch ebenso kommt das Schwärmen für die neuerworbenen Freiheiten nicht ohne leicht durchschaubare, rhetorische Krücken voran. Wie tief die mentale Verankerung in alten Hierarchien die polnische Gesellschaft der Gegenwart noch prägt, gehört für Grabowski nach wie vor zu ihren Tabus, und deshalb ist Stasiuk wichtig als einer, „der in diesem Ameisenhaufen rührt“.

Nun könnte man vermuten, dass der Generationskonflikt, wie ihn Stasiuk hier verhandelt, 20 Jahre nach den ersten freien Wahlen in Polen im Juni 1989 auf dem Theater und in der Literatur ein häufiges Thema, eine von vielen Stimmen getragene große Erzählung sei. Aber Dorota Krakowska, die seit zwölf Jahren in der Programmabteilung des Goethe-Instituts in Krakau arbeitet und die Kontakte zu den Theatern managt, bestreitet das. „Stasiuks Blick ist eine Ausnahme.“ Und überhaupt scheint man in Polen nicht so wie in Deutschland versessen darauf, die letzten zwanzig Jahre zu feiern und Rückschau zu halten – zu viele der anfänglichen Hoffnungen blieben auf der Strecke.

Deshalb freute sich das Stary Teatr über die Anfrage des Goethe-Instituts, ob man an dem Projekt „After the Fall“ teilnehmen wollte. „After the Fall“ ist das größte Theaterprojekt des Goethe-Instituts in diesem Jahr, begonnen vor zwei Jahren. Martin Berg ist einer der Initiatoren, und er erzählt im Stary Teatr über das Konzept, den Fall der Mauer nicht als deutsches Ereignis zu thematisieren, sondern im Kontext Europa. „Wie erzählt man über die Gegenwart, die Vielzahl der Entwicklungen in Europa, die unterschiedlichen Demokratiebewegungen, die Verschiebungen der Grenzen nach außen?“, zählt er die Fragen auf, die man Theaterautoren auf den Tisch legen wollte. Die Goethe-Institute sprachen Theater an, die Theater konnten den Autor aussuchen, den sie mit der Nachwendegeschichte beauftragen wollten. Stasiuk, dessen erstes Drama „Die Nacht“ Grabowski auch schon inszeniert hat, gehört nun zu den 19 Dramatikern, die sich vor allem in Osteuropa und Skandinavien an „After the Fall“ beteiligen, zu den Prominenten. Im Verlag seiner Frau, Czarne, ist das Stück auch gleich als zweisprachiges (Polnisch/Deutsch) Buch erschienen.

In Rumänien ging der Auftrag an Teodora Claudia Herghelegiu, Autorin und Regisseurin. „Unsere Mauer hat nur Risse bekommen, es wird noch 50 oder 80 Jahre dauern, bis die intolerablen Effekte, die aus der Vergangenheit Einfluss auf unsere Gegenwart haben, vorüber sind“, sagte sie auf einer Pressekonferenz zu „After the Fall“, zu der das Goethe-Institut nach Berlin im Mai eingeladen hatte. Ihr Stück „Die Mauer“, im Mai (in Ploiesti/Rumänien) aufgeführt, besteht aus zwei Teilen. Der erste ist unglaublich hart und erzählt in mehreren kurzen Szenen von nichts als Bosheit, Gewalt und Rücksichtslosigkeit: Da ist auf der einen Seite der Versuch der Autorin zu erkennen, den Verlust aller moralischen Werte und eine hoffnungslose Verwilderung im Zwischenmenschlichen zu beschreiben. Aber ebenso bringt die Lektüre einen Pulp-Fiction-Effekt zum Vorschein, eine Lust am Übertrumpfen der gruseligsten Erwartungen, ein Weitertreiben ins Unglaubliche. Securitate reloaded, denkt man beim Lesen oft.

Der zweite Teil ihres Stücks verfolgt dagegen eine Idee, die ebenso viel von einer Utopie wie von einer Idiotie hat: Was wäre, wenn die Anständigen, die nicht mitmachen wollen bei den Schweinereien und kriminellen Bereicherungen, sich einmauern zu ihrem eigenen Schutz? Unter völlig verdrehten Vorzeichen wiederholen sich Elemente einer bekannten Geschichte. Die Protagonisten, die sich in einem Theater eingemauert haben, jagen noch einmal durch Konflikte von Revolte, Machtverteilung, Kontrolle. Natürlich ist die Versorgungslage katastrophal und das Misstrauen unter den Aussteigern bald groß. Bei aller Schwarzmalerei liest sich der Text von Teodora Claudia Herghelegiu aber dennoch gut, zumal er von vielen ironischen Reflexionen durchschossen ist. Nicht umsonst sind es Künstler, die das Andersleben versuchen, und in deren Macken und Weltfremdheiten kennt sich die Autorin eben gut aus.

Nach Berlin war auch Nicoleta Esinencu aus der Republik Moldau gekommen, für die der „Mauerfall auch nicht mehr als eine Fußnote“ im Verhältnis zu der anhaltenden Diktatur in ihrem Land ist. Ihr Stück „Antidot“ wurde an keinem Theater, sondern in einer Galerie von einer Gruppe aus Künstlern und Schauspielern im Februar aufgeführt. Sein Leitmotiv ist das Gas: Von einer Kindheit, in der der Umgang mit der Gasmaske und Übungen im Verteidigungsfall zum Schulalltag gehörten, führt „Antidot“ zu den Kriegen um Pipelines und Gaslieferungen als Mittel der politischen Erpressung.

Doch ausgerechnet die türkische Investorin, die am Ende auftritt, will von ihnen gar nichts anderes als ein Fortspielen ihrer alten Rollen, im Themenpark „Das Leben an der Grenze“

Sechs der Stücke sind bisher aufgeführt, ab September folgen weitere Premieren. Zwei deutsche Theater, in Mülheim und in Dresden, werden im November 2009 einige Produktionen zu einem Festival einladen. Deren Intendanten bereisen die bisherigen Produktionen neugierig und auch etwas nervös, denn längst sind noch nicht alle Stücke fertiggeschrieben.

Doch schon beim Lesen der bisherigen Texte wird klar: Man kann bei diesem Projekt viel über Europa lernen. Und es ist alles andere als ein Feiertagsprojekt geworden, das zum Ruhme des Mauerfalls in Deutschland nun Stimmen aus Europa zusammenträgt. Bisher scheint es viel mehr, dass die Autoren den Stückauftrag tatsächlich als Chance begriffen haben, ein ureigenes Thema aufzugreifen.

Das hat, im Fall von Andrzej Stasiuk, auch sehr viel mit nationalen Klischees, Selbstethnifizierung und der Angst vor dem Fremden zu tun. Edek, der alte Grenzschützer, beschwört, darin kräftig vom Chor der Schmuggler unterstützt, alle Bilder des Misstrauens gegenüber Engländern, Juden, Zigeunern und Türken, von denen er auch gar nichts wissen will. Der Türke, der dem Stück seinen Titel gibt, gilt ihnen als Symbol für den endgültigen Verrat ihrer Werte. Doch ausgerechnet die türkische Investorin, die am Ende auftritt, will von ihnen gar nichts anderes als ein Fortspielen ihrer alten Rollen, in einem Themenpark „Das Leben an der Grenze“. Da könnten sie dann, was ihre Wirklichkeit war, als folkloristisches Abziehbild verkaufen.

Zwar haben das Stück und seine Inszenierung einige Schwächen: Es ist etwas zu sehr Schwank und zu vorhersehbar. Die Folgen der Globalisierung an diesem Mikrokosmos durchgespielt, tun niemandem weh. Tritt man aus dem schönen alten Theater wieder hinaus auf die Straßen der Altstadt Krakaus, die abends von trinklustigen Touristenbanden geradezu überschwemmt wird, hat das Stück auch etwas von Rückzug an einen Ort, dem als Zukunft noch bevorsteht, was die Stadt Krakau schon längst erlebt hat. Aber vielleicht braucht es die Beschränkung, um das schon alltäglich Gewordene wieder sichtbar zu machen.