„Deutschland verändert“

Tunçel Kurtiz hat 1978 mit dem Film „E 5“ die Strapazen türkischer Gastarbeiter auf ihren Reisen in die Heimat dokumentiert. Ein Gespräch über billige Arbeitskräfte und andere Fehler der Integration

INTERVIEW HARALD FRICKE

taz: Herr Kurtiz, Ihr Dokumentarfilm „E 5“ hat im Deutschen zwei Untertitel, mal heißt er „Gastarbeiterstraße“ und mal „Todesstrecke“. Was hat es mit diesem Unterschied auf sich?

Tunçel Kurtiz: Es gab noch einen anderen Titel für den Film. Ich wollte ihn erst nach einem berühmten türkischen Lied nennen: „Dort in der Ferne gibt es ein Dorf / auch wenn wir dort nicht hingehen / auch wenn wir es nicht sehen / ist dieses Dorf unser Dorf.“ Aber das wäre wohl zu lang gewesen. Im Film wird das Lied allerdings von Kindern gesungen, durchaus mit kritischer Absicht: Wenn du erst einmal fortgegangen bist, ist es eben nicht mehr dein Dorf.

Und „Todesstrecke?“

Der Titel ist ein Hinweis, dass auf der Strecke zwischen der Türkei und dem Westen damals immer wieder ganze Gastarbeiterfamilien bei Unfällen ums Leben kamen. Im Film habe ich auf solche Schreckensbilder von Leichen und aufgeschlitzten Autos verzichtet, mir waren die Interviews mit den Leuten wichtiger.

Bei vielen der befragten Männer klingt es fast heldenhaft, wenn sie erklären, dass sie die Strecke trotz aller Gefahren meistern werden.

Weil es damals ihr Beruf war, die Fahrt gehörte zum Leben. Zweimal im Jahr setzten sie sich mit ihren Frauen und bis zu sechs, sieben Kindern pünktlich zum Ferienbeginn ins Auto. Im Juli und zu Weihnachten ging es zurück in die Türkei – egal ob sie aus Schweden, Deutschland, Holland oder der Schweiz nach Hause fuhren. Dabei dauert es von der bulgarischen Grenze aus über 20 Stunden, bis man im Osten der Türkei ankommt. Heute nehmen die meisten das Flugzeug, das hätte sich in den 70ern kaum jemand leisten können.

Hätten türkische Gastarbeiter auf die beschwerlichen Reisen in ihre Heimat verzichten sollen?

Nein, keineswegs. Sie waren ja auch in den westlichen Ländern nicht wirklich zu Hause, sondern nur gewünscht als billige Arbeitskraft. Wie es an einer Stelle bei Max Frisch heißt: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, aber es kamen Menschen.“ Zu dieser Zeit hätte wohl niemand gedacht, dass die türkischen Gastarbeiter einmal so erfolgreich werden, dass sie wesentlich den Wiederaufbau Deutschlands mitgestalten würden. Im Verlauf dieser Entwicklung haben viele von ihnen aber auch festgestellt, dass sie nicht einfach wieder in ihre Heimatdörfer zurückkehren können. Sie haben das Leben in Deutschland verändert, und das Leben in Deutschland hat sie verändert. Selbst für mich war es schwer, nach meiner Zeit an deutschen und schwedischen Theatern in der Türkei wieder Fuß zu fassen.

Ist „E 5“ ein Film über die Schwierigkeit, zwischen Ländern und Kulturen zu pendeln?

Nicht nur, aber viele sind an dem Glauben gescheitert, dass ihr ganzes Glück allein in der Türkei liegt. Sie wollten in Deutschland Geld machen, um sich daheim eine Existenz aufzubauen. Aber während sie hier gearbeitet haben, hat sich auch die Situation zu Hause verändert.

Zumal in den 70er-Jahren in der Türkei bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten?

Deshalb sieht man im Film vor jeder Bank in Istanbul bewaffnete Soldaten stehen, das war die Realität damals.

Dagegen zeigt der Film Kreuzberg als Ansammlung von Abbruchhäusern. War das eine bessere Zukunft?

Ich habe auch den Ku’damm gefilmt, aber dort lebten eben keine Türken. Mir ging es nicht darum, irgendein Elend hervorzuheben oder gegen die schlechten Bedingungen von Türken in Berlin zu polemisieren. „E 5“ sollte so viel Wirklichkeit wie möglich transportieren – und das waren damals oft sehr schlechte Jobs, sehr schlechte Wohnungen, auch davor sind die türkischen Familien in den Urlaub geflohen.

Wo spielt sich heute die Identität junger Türken ab – hier oder in der alten Heimat?

Schauen Sie sich die Filme von Ayse Polat oder Fatih Akin an, die leben nicht mehr in der Türkei, die sind ganz und gar in Deutschland zu Hause. Wenn Birol Ünel, der Hauptdarsteller aus Akins „Gegen die Wand“, nach Istanbul kommt, dann braucht er einen Dolmetscher, weil er die Sprache verlernt hat.

In „E 5“ haben die Jugendlichen aus der Türkei ganz andere Probleme – sie bekommen nicht einmal einen Ausbildungsplatz.

Das war eines der größten Versäumnisse der deutschen Regierung. Sie wollte junge Türken über Lehrstellen integrieren, statt sie stärker schulisch zu fördern. Innerhalb der Betriebe war man wiederum nicht an der Ausbildung von Türken interessiert, sondern eher an ungelernten, weil billigen Arbeitskräften. Dadurch ist für diese Generationen in den Siebzigern und Achtzigern ein enormes Bildungsdefizit entstanden, sodass sie sich als Bürger zweiter Klasse fühlen mussten.

Weil es in den Siebzigerjahren keine ernsthafte Integration gab?

Heute müssen wir mit den Folgen leben, mit Drogen, Arbeitslosigkeit und Gewalt, wie man sie etwa in vielen Filmen des Festivals „Europe in Motion“ zu sehen bekommt. Aber es gibt auch in Deutschland mittlerweile türkische Literaten, Filmemacher und Intellektuelle, da sehe ich die Situation viel optimistischer.

Trotzdem fordern CDU-Politiker eine „Leitkultur“, an der sich auch Türken orientieren sollen. Wer hat denn nicht dazugelernt?

Bei solchen Diskussionen sollte man nicht vergessen, dass in der Türkei deutsche Kultur durchaus bekannt ist – Goethe, Heine, Mann, Grass. Aber was ist mit den klassischen Schriftstellern aus der Türkei oder aus arabischen Ländern? Was mit den neuen Filmemachern aus Indien oder Istanbul? Nicht bloß Deutschland, Europa überhaupt muss begreifen, dass es etwas von den Kulturen des Ostens lernen kann. Sonst dreht sich Europa mit seiner bürgerlichen Kultur irgendwann nur noch im Kreis. Es wird Zeit, dass Europa seine Fenster öffnet. Denn wenn man die Fenster nicht öffnet, kriegt man Kopfschmerzen oder man erstickt daran.