Ein höchst sensibler Flügel

Scheunen, Ställe Schlosskonzerte: Beim Schleswig-Holstein Musikfestival spielte der weltberühmte Pianist Ivo Pogorelich auf Gut Altenhof, daheim bei der Reichskanzler-Nachfahrin Sophie von Bethmann-Hollweg. Doch wo zum Teufel liegt Gut Altenhof? Der Routenplaner läuft heiß

„Ähem“ sagt ein Zuhörer, „so habe ich Rachmaninoffnoch nie gehört“

von Andrea Mertes

„Boäng“ vibriert es aus den Tiefen des Flügels. Es ist nicht irgendein Flügel, sondern ein Steinway. Das „Boäng“ ist nicht geplant, es ist ein Misston, und dieser wird im Laufe des Abends noch eine Menge Menschen beschäftigen. Einen Klavierstimmer aus Kiel wird er ins Rampenlicht bringen. Den Radio- und Fernsehmoderator Jörg Thadeusz wird er kurzfristig arbeitslos machen. Eine Mitarbeiterin des Schleswig-Holstein-Musikfestivals wird in ihrem Auto nach Schraubenschlüsseln kramen. Und einen Pianisten von Weltruf jagt das Geräusch von der Bühne, wenigstens vorübergehend. Statt seiner wird die Nachfahrin eines alten Reichskanzlers für eine Weile den Bühnenboden betreten, aber auch nicht wissen, woher der Misston kommt. Ja, und dann sind da noch 870 Zuhörer. Und die warten jetzt alle. Auf den Klavierstimmer, die Schraubenschlüssel, den Pianisten, auf Chopin und Rachmaninoff und darauf, dass es weitergeht.

Seit knapp zwei Wochen ist wieder Schleswig-Holstein Musik Festival. Quer durchs nördlichste Bundesland wird musiziert, meist klassisch, 158 Veranstaltungen, verteilt auf anderthalb Monate. Und auf Spielstätten, von denen sehr viele Menschen noch nie gehört haben. Altenhof bei Eckernförde zum Beispiel. Eine denkmalgeschützte Hofanlage mit 18-Loch-Golfplatz. Wie aber kommt der Musikfreund nach Altenhof? Zum Beispiel befragt er einen Routenplaner im Internet. Der wiederum behauptet dann, dass Altenhof bei Aschau liegt. Was wiederum falsch ist. Der Musikfreund steht hinter Aschau mit dem Auto am Strand, blickt voller Staunen auf die Kieler Bucht und beginnt zu begreifen: Die Spielstätten dieses Festivals müssen entdeckt werden wie Trüffel. Und gerade das hat ja auch seinen Reiz, meint Pawel Sprawka von der Pressestelle: „Das Schöne ist, dass man dadurch das Land entdeckt.“

Die Rettung ist schließlich ein bescheidenes Plakat in Blasslila. „konzert“ steht darauf, in Kleinbuchstaben. Es geht durch eine beeindruckende Eichenallee hindurch, im Rückspiegel folgt ein BMW Z4. Parkplatzwächter winken ein, vorbei an Autos der Mittel- und Oberklasse, und vorbei an ersten Besuchern. Sehr gut gekleidete Paare gehen Arm in Arm aufs Gutshaus zu.

Das Gut Altenhof ist ein alter Adelslandsitz. Und es gehört nicht nur, nein, es befindet sich im Besitz der Familie von Bethmann-Hollweg. Kenner der deutschen Geschichte erinnern sich möglicherweise an einen gewissen Theobald von Bethmann-Hollweg. Der Mann war 1909 bis 1917 deutscher Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident und Außenminister. Bis Wilhelm II. ihn abgesetzt hat.

Sophie von Bethmann-Hollweg trägt ein mintgrünes Kostüm und hat wenig Zeit. Heute Abend spielt auf ihrem Gut ein Pianist von Weltruf, Ivo Pogorelich, ein höchst sensibler Künstler. Konzentration ist vonnöten. Und dann hat sich auch noch das Fernsehen angemeldet.

Der Steinway für Pogorelich wurde schon vor Stunden aus Hamburg antransportiert. Mit einem Kran haben sie ihn ins alte Kuhhaus befördert, hoch oben unter den Dachstuhl, wo die grauen Plastikstuhlsitzreihen noch leer sind. Im Parterre begrüßen sich sich Bekannte über einem Doppel Wiener Würstchen mit Kartoffelsalat zu 2,50 Euro: „Ich habe Ihren Mann gestern auf dem Golfplatz gesehen.“

Es ist halb acht am Abend. Die Sonne legt ein weiches Licht über die 300 Jahre alten Eichenbäume, die Gutshäuser und die Gäste. Ein mitgebrachter Windhund wird angeleint. Hinter einer Art Biertisch mit weißer Decke steht Jörg Thadeusz und verkauft Programmhefte. Vor zwei Stunden haben sich von Bethmann-Hollweg und der ehemalige Moderator der Sendung Extra 3 kennen gelernt. Thadeusz ist gerade für den NDR auf Wanderschaft – drei Wochen auf der Walz, ohne Geld in der Tasche, von einer nordfriesischen Hallig bis nach Goslar. Als Gegenleistung für seinen Beitrag zum Schleswig-Holstein Musikfestival darf Thadeusz in der Schlossanlage essen und schlafen. „Eine Dienstbotenwohnung“, sagt er über seine Unterkunft. „Das sind unsere Zimmer für Gäste“, sagt Bethmann-Hollweg. Thadeusz jobbt als Heftchenverkäufer, die Konzertpause soll er mit später mit einer Glocke einläuten. Dazu kommt es dann allerdings nicht mehr. Denn vorher kommt das „Böang“.

Der Klavierstimmer Alexander Hoppe wird sagen, der Pianist Pogorelich sei nach dem Einspielen ganz glücklich gewesen über den gut gestimmten Flügel. Das komme schon selten genug vor, ein Grund zur Freude also. Niemand habe damit rechnen können. Ein Steinway zählt zu den robustesten aller Konzertflügel. „Manche Pianisten spielen so heftig, dass man Angst hat, die Fußpedale brechen ab. Aber ein Steinway hält alles aus“, sagt Hoppe.

An diesem Abend ist es anders. Da reicht schon ein Millimeter. Um soviel nur hat sich das Pedalgefüge des Flügels verschoben. Genug, dass beim Pianissimo neben den beiden notwendigen Saiten noch eine dritte angeschlagen wird. Ein benachbarter Halbton ist so zu hören, eine Dissonanz, ein fieses „Boäng“. Beim ersten Ton zucken im Publikum noch Augenbrauen – hat Pogorelich sich etwa verspielt?

Nach 20 Minuten hat der Musiker die Nase voll. Er verlässt die Bühne, kommt wieder hinaus – Hoppe im Schlepptau. Der hat aber nur sein Regulierwerkzeug in der Tasche. Während der Festivalintendant Rolf Beck eine Pause von 15 Minuten ankündigt, wird unten in Autos nach Schraubenschlüsseln gekramt. Eine blonde Frau im knappen Kostüm kommt mit einem 24-er Schlüsselsatz, ein Bühnentechniker mimt derweil den Bodyguard und schützt Hoppe vor den Blitzen der Fotografen: „Die haben mich so von unten erwischt, dass ich nichts mehr sehen konnte“, sagt der später.

Innerhalb von 10 Minuten liegt die komplette Klaviatur des Steinways auf dem Bühnenboden. Sophie von Bethmann-Hollweg diskutiert über den Fortgang des Abends, und Jörg Thadeusz kann schon einmal Feierabend machen. Denn der Steinway tut nach 20 Minuten Reparatur wieder seinen Dienst, und Pogorelich wird ohne Pause das Programm hinunterspielen, als wolle er es morden. „Ähem. So habe ich Rachmaninoff noch nie gehört“, ist ein eher zaghafter Versuch eines Zuhörers, dem Gehörten eine Form zu geben. „Ich habe hier die Pflicht, Kunst aufzuführen“, sagt der kahlrasierte Pogorelich an diesem Abend noch und sieht dabei gequält aus.

Nachdem der letzte Ton auf dem dann doch tadellos vibrierenden Steinway verklungen ist, sieht eher sein Publikum gequält aus. Aber das gehört unbedingt dazu, zu einem Musikabend draußen auf dem Land, irgendwo auf einem versteckten Gutshof mit einem Musiker, der seit Jahren kaum mehr Konzerte gibt. Ein Fernsehmoderator, der sich in der Schlossanlage verläuft. Eine Adelige, die ihr Gut für kleine Einblicke der Öffentlichkeit vermietet. Ein Pianist, der die Gelegenheit zur Improvisation nutzt und letztlich gut gelaunt zu seinem Fahrer in den Wagen steigt. Und ein karg beleuchteter Parkplatz, über den man spät, viel später zum Auto stolpert, um die eigene Heimreise anzutreten. Ohne Routenplaner.