Die Soldaten des Messias

Die Siedlerbewegung Gush Emunim setzt alles daran, das ganze biblische Land zu besiedeln. Das Buch „Die Herren des Landes“ von Idith Zertal und Akiva Eldar ist die erste umfassende Darstellung ihrer Geschichte und Ideologie

Die Führung der Siedler nutzt die Widersprüche zwischen der Struktur des Staates Israel und seinen heiligsten Idealen

VON ULRICH GUTMAIR

An Hebron muss jeder Versuch scheitern, die komplexe Realität des Nahostkonflikts mit simplen Dichotomien zu erklären – hier jüdisches Land, dort arabisches Land, hier religiöse Fanatiker, dort der säkulare Staat. Da räumen israelische Polizisten drei von jüdischen Siedlern besetzte Wohnungen, die jüdischen Familien gehören, die vor dem Pogrom von 1929 hier lebten – im Herzen der nunmehr palästinensischen Stadt, das bis auf die jüdische Siedlung menschenleer ist. Elf Polizisten und vier Aktivisten werden verletzt, bis die Exekutive ihre Mission erfolgreich abschließt. Zwölf Soldaten, die sich auf Anweisung ihrer Rabbiner geweigert haben, an der Räumung mitzuwirken, werden wegen Befehlsverweigerung bestraft und vom Dienst an der Waffe ausgeschlossen.

Die Bilder, die weltweit über die Fernsehschirme flimmern, lügen nicht, aber sie sind auch nicht imstande, die Lage wirklich zu erfassen. Der israelische Staat hat zwar anhand eines weithin sichtbaren Exempels deutlich gemacht, dass er die Herrschaft des Rechts auch gegenüber religiösen Siedlern durchzusetzen gewillt ist. Die Armee hat gezeigt, dass sie den Anweisungen einer demokratisch gewählten Regierung Folge leistet, nicht den Gutachten von Rabbinern. Allerdings wird hier eine Autorität reklamiert, die man in den vergangenen vierzig Jahren der Besatzung peu à peu und aus freien Stücken aufgegeben hat, wie die Historikerin Idith Zertal und der Journalist Akiva Eldar in ihrem nun auf Deutsch erschienenen Buch „Die Herren des Landes“ zeigen. Es ist die erste zusammenhängende Darstellung des Projekts der Siedlungen und seiner Ideologie, und sie hat in Israel zu lebhaften Debatten geführt.

Scharmützel wie in Hebron folgen einer langerprobten Strategie der Siedlerbewegung, wie Zertal und Eldar sie analysieren. Die Besetzung einiger Wohnungen ist zwar fürs Erste beendet, gleichzeitig aber bestehen ungefähr 120 „legale“ Siedlungen im Westjordanland weiter, in denen heute rund 300.000 Menschen leben. Ihre Räumung steht nicht zur Debatte, weil die Siedlerbewegung seit 1967 nicht nur sehr erfolgreich darin war, sich die Unterstützung der Politik zu sichern, die immense Geldströme aus dem Staatshaushalt in die Infrastruktur der Siedlungen fließen ließ. Einer der grandiosen Tricks der Siedler besteht, wie Zertal und Eldar zeigen, gerade darin, die Unterscheidung zwischen „legalen“ und „illegalen“ Siedlungen zu einer Selbstverständlichkeit gemacht zu haben. „Auf dem Gebiet der Westbank wurden de facto zwei getrennte Staaten für zwei einander verfeindete Völker geschaffen, die Palästinenser und die Siedler, und diese beiden Staaten verfügten über getrennte Straßennetze, Versorgungs- und Rechtssysteme“, schreiben die Autoren.

Die Organisation der Siedler, der Gush Emunim (Block der Getreuen), ist zwar einerseits gescheitert, glauben Zertal und Eldar: Es sei ihr nämlich nicht gelungen, die besetzten Gebiete mit Millionen von Juden zu besiedeln, wie ihre Visionäre einst erträumten. Der Gush Emunim habe es aber dennoch geschafft, den öffentlichen Diskurs in Israel immer wieder in die gewünschte Richtung zu lenken – mit Propaganda, mit Hetzkampagnen wie derjenigen, der Ministerpräsident Jitzhak Rabin zum Opfer fiel, aber auch mit Fragen, die nicht nur an dem zionistischen Selbstverständnis der israelischen Gesellschaft rühren, sondern sich gewissermaßen auf das moderne Recht auf Freizügigkeit berufen.

Warum, so fragen die Siedler immer wieder, sollen ausgerechnet Juden nicht in Hebron und anderswo im biblischen Land Israel leben dürfen? Die Antwort säkularer Israelis wie Zertal und Eldar lautet: Weil die 1967 besetzten, außerhalb der Grünen Linie liegenden Gebiete gemäß internationaler Verträge und Gepflogenheiten nicht mit Zivilisten der Besatzungsmacht besiedelt werden dürfen. Weil jüdische Siedlungen einen lebensfähigen palästinensischen Staat verhindern und somit einen Frieden unmöglich machen. Zertal und Eldar fügen diesen bekannten Argumenten ein weiteres hinzu, dem sie ein eigenes Kapitel ihres Buchs widmen: Es liegt in der Logik der Besatzung, dass für Vergehen von Palästinensern israelische Militärgerichte zuständig sind, die das alte, zur Zeit der Eroberung der Gebiete gültige jordanische Recht anwenden. Es sieht für ähnliche Vergehen meist deutlich höhere Strafen vor als das israelische Recht, dem die Siedler unterstehen.

Noch viel fragwürdiger als diese Ungleichbehandlung von Juden und Arabern in den Gebieten ist allerdings der jahrzehntelange, mehr als laxe Umgang mit straffällig gewordenen Siedlern durch die israelische Justiz – selbst bei Kapitalverbrechen, denen Palästinenser zum Opfer fielen. Wenn also die Polizei hin und wieder hart gegen Siedler durchgreift, ändert das nichts an der schleichenden Erosion des Rechtsstaats in den Gebieten, die letztlich den Kern desselben auch in Israel selbst aushöhlt, schreiben Zertal und Eldar. Die Siedler haben – unterstützt von Beamten, Richtern und Politikern, allen voran natürlich dem „Vater der Siedlungen“, Ariel Scharon – Israel nicht nur einen permanenten Kriegszustand aufgezwungen, sondern der gesamten israelischen Gesellschaft ihren Stempel aufgedrückt.

Warum aber verfangen alle rationalen Einwände gegen Besatzung und Besiedlung nicht? Warum ist die israelische Friedensbewegung nur einmal, während des Wahlkampfs von 1992, mit dem Argument durchgedrungen, dass in „Judäa und Samaria“ Abermillionen Schekel investiert wurden, während das israelische Sozialsystem ausblutet und das Bildungssystem erodiert? Nicht nur die israelische Rechte hat auf die Infragestellung des Siedlungsprojekts letztlich immer mit dem Argument der Sicherheit geantwortet. Zertal und Eldar zerstören noch einmal gründlich diesen Mythos, zeigen aber vor allem, aus welchen ideologischen Konstellationen die Siedlerbewegung ihre wahre Stärke bezieht. Sie widmen sich ausführlich den Überzeugungen der religiösen Siedlerbewegung, die die Besiedlung von „Judäa und Samaria“ begonnen und immer weiter vorangetrieben hat.

Dass diese Bezeichnung für die besetzten Gebiete im Westjordanland längst offizieller Sprachgebrauch ist, zeigt laut Zertal und Eldar dabei das Ausmaß der Komplizenschaft des israelischen Staats mit der Siedlerbewegung. Denn diese Bezeichnung stelle die sprachliche Annexion der von Juden besiedelten Zonen im Westjordanland dar. Dennoch ist auch diese Operation kein Beleg für ein klassisch kolonialistisches Programm, wie man es aus der europäischen Geschichte kennt, obwohl Zertal und Eldar durchaus immer wieder Parallelen zum französischen Desaster in Algerien erkennen können. Die Autoren erwähnen nicht, dass heute immer mehr Israelis aus ganz unideologischen Motiven in die oft schön gelegenen und billigen, weil staatlich subventionierten Wohnungen und Häuser in den großen Siedlungsblöcken ziehen. Für die „Soldaten des Messias“, wie die Autoren die radikalen Siedler nennen, ist die Präsenz in Eretz Israel, dem biblischen Land, das weit über die Waffenstillstandslinie von 1949 hinausreicht, aber keine rationale oder auch nur pragmatische Frage von Sicherheitserfordernissen, eines bequemen suburbanen Lebensstils oder gar der Herrschaft über ein anderes Volk – es ist ein göttliches Gebot.

1975 stürmte diese Erlösungsbewegung in Gestalt des zwei Jahre zuvor gegründeten Gush Emunim mit der Besetzung der alten Eisenbahnstation von Sebastia „wie ekstatische Anhänger einer kultischen Sekte“ ins israelische Bewusstsein, schreiben Zertal und Eldar. Die Erlösungsideologie des Gush Emunim gründet sich wesentlich auf die Schriften von Zvi Yehuda Kook, dessen Vater Abraham Jitzhak HaCohen Kook Anfang des Jahrhunderts nach Palästina eingewandert war. Er hatte 1920 geschrieben, der künftige Staat Israel werde der heilige „Wohnsitz Gottes“ sein. In Bezug auf den säkularen Zionismus nutzte der ältere Kook den theologischen Begriff des „tikkun“, einer heilenden, historischen „Reparatur“, die mit dem göttlichen Plan übereinstimme. Theodor Herzl, den säkularen Staatsgründer, lobte Kook in seinem Nachruf als Messias aus dem Hause Joseph, weil er die Rückkehr nach Zion eingeleitet hatte. Kook war ein anerkannter Rabbiner, der den Zionismus lediglich im Hinblick auf seine religiöse Bedeutung interpretierte.

Seinem Sohn Zvi Yehuda Kook gelang es aber, mit einer simplifizierenden Lesart der väterlichen Schriften zur führenden spirituellen Kraft einer Gruppe nationalreligiöser junger Leute zu werden, die auf ein politisches Ziel hinarbeiteten. Sie wollten den säkularen Staat Ben Gurions verändern, „der nicht zulässt, dass die Tora Israels seine Gestalt bestimmt“. Unter Zvi Yehuda Kooks spiritueller Führerschaft ging es aber bald um ein weitaus höheres Ziel: mit den Mitteln direkter Aktion und politischer Einflussnahme am göttlichen Erlösungsplan mitzuwirken, der mit der Besiedlung des Landes schon morgen Wirklichkeit werden konnte.

Die Führer des Gush Emunim machten dabei „raffinierten Gebrauch von den inhärenten Widersprüchen in der Struktur des israelischen Staats und seiner heiligsten Ideale“, wie Zertal und Eldar schreiben. Das messianische Projekt der Siedlungen lesen die Autoren gewissermaßen als das postmodern-irrationale Verfallsprodukt des modernistischen Projekts des Arbeiterzionismus. Die Gründergeneration des Staats habe in einem Moment der Krise in den jungen Siedlern die Begeisterung und Hoffnung gesehen, die ihr selbst nach dem Desaster des Jom-Kippur-Kriegs abhanden gekommen sei. Trotz ihrer messianischen Agenda erschienen die asketischen, eifrigen jungen Leute auch alten Arbeiterzionisten in der Regierung als wahre Idealisten und Zionisten. Die junge Bewegung machte sich dabei die Ideologie und Praxis der Illegalität zueigen, die sich zu den Zeiten des kämpferischen Zionismus in den Dreißigern und Vierzigern noch gegen die britische Mandatsmacht gerichtet hatte, und wandten sie nun gegen die eigene Regierung.

Dort stießen sie daher nicht nur auf Sympathien. Doch auch eherne Rationalisten wie Premier Jitzhak Rabin, der die Siedler hasste, sie aber im Falle Sebastias 1975 aus taktischen Erwägungen gewähren ließ und damit das Tor für die Siedlerströme weit öffnete, waren blind „für diese völlig neue Art messianisch-politischer Energien und Kräfte, die in der gesellschaftlichen Gruppe, aus der sich der Gush Emunim rekrutierte, zum Ausbruch gekommen war“, analysieren Zertal und Eldar.

Die Antwort, die liberale Israelis wie Zertal und Eldar auf das religiös-zionistische Programm der Besiedlung von Eretz Israel geben, lautet im Grunde so: Das ursprüngliche Projekt des säkularen Zionismus hat sich mit der Gründung und erfolgreichen Verteidigung des Landes in international anerkannten Grenzen nicht nur bereits erfüllt. Der Messianismus der Siedler droht sogar, seinen Untergang herbeizuführen. Wenn der israelische Journalist Daniel Ben-Simon, nachdem israelische Polizei und Armee in Hebron aufmarschierten, in Anlehnung an eine andere geschichtliche Zweiteilung des Landes in zwei jüdische Königreiche schrieb, hier stünde wieder ein Staat Judäa einem Staat Israel gegenüber, dann ist auch das nur die halbe Wahrheit. Denn die Agenten Judäas haben Israel zwar erfolgreich unterwandert. Judäa ist aber ohne Israel nichts, wie Zertal und Eldar deutlich machen. Die Siedlungen sind für sich allein nicht lebensfähig. Israel ohne Judäa ist hingegen bereits alles, auch wenn es sich dessen nicht mehr bewusst zu sein scheint: ein aus eigener Kraft existierender Staat.

Idith Zertal, Akiva Eldar: „Die Herren des Landes. Israel und die Siedlerbewegung seit 1967“. DVA, München 2007, 592 Seiten, 28 €