Das Gute ist eine Legende

Die Gefahr wäre Romantik gewesen: Die musikalisch-vielsprachige Holocaust-Oper „Raoul“ von Gershon Kingsley aber lässt dem Glück seinen Raum, ohne ihm zu sehr zu vertrauen. Mit abstrahierten Darstellungen der Rettung tausender Juden durch Raoul Wallenberg entgeht sie der Kitschfalle

VON BENNO SCHIRRMEISTER

… und dann diese Duos! Ja, sie triefen vor naiver Terzenseligkeit, jubelnden Dur-Klängen, das ist kitschig. Aber kein Kitsch. Kitsch das hieße: Die trügerische Harmonie bestehen lassen. Rührselig werden. Im warmen Bad der Gefühle eindösen.

Davon kann in Gershon Kingsleys Musik nicht die Rede sein. Am Donnerstagabend hatte seine Oper „Raoul“ in Bremen Premiere. Sie porträtiere, hat Librettist Michael Kunze nüchtern notiert, den schwedischen Kaufmann Raoul Wallenberg. Und es ist wirklich so: Sie lässt das Glück – die innige Liebe, den menschlichen Menschen – als Möglichkeit aufscheinen. Und verlöschen. Sie lässt, zum Schluss, das Gute – ja, ja, so pathetisch – mit Kindersopran triumphieren. Als Legende. Und als Rückblick.

Raoul Wallenberg war, aus Entsetzen über das Schicksal der Juden, 1944 ins besetzte Budapest gereist, mit dem einzigen Ziel „dort so vielen Menschen wie möglich das Leben zu retten“. Dafür hatte er sich – Bankierssohn mit familiären Verbindungen ins Außenministerium des neutralen Staates – den Status eines Diplomaten verschafft. Er selbst entwarf „Schutzpässe“, die er an die Getto-Bewohner verteilte. Kurz nach dem Einmarsch der Sowjetarmee nahm ihn, am 17. Januar 1945, eine Sondereinheit des Stalinschen Geheimdienstes gefangen. Nach langem Schweigen gab 1957 der sowjetische Außenminister bekannt, Wallenberg sei zehn Jahre zuvor in der Haft an Herzversagen gestorben. Mit 35 Jahren. Ein kerngesunder Mann.

Die Gefahr hätte Romantik geheißen. Da sind einmal: diese Autoren! Kingsley: Der steht nun mal für den frühen Elektro-Pop. Und der Texter Kunze ist zu gut im Schlager- und Musical-Geschäft – von „Ein Bett im Kornfeld“ bis „Marie Antoinette“ –, als dass man das Stirnrunzeln etlicher Opern-Intendanten, denen die beiden ihr Werk angeboten hatten, nicht würde nachvollziehen können. Hinzu kommt: Der Stoff! Denn der idealistisch-selbstlose Wallenberg eignet sich viel eher noch als der pragmatische Schindler zu einer Heldenerzählung. Im Kino mag das vielleicht noch angehen. Aber das leuchtende Individuum als Träger der unerzählbaren Holocaust-Erzählung – war es nicht dieser Konstruktionsfehler, der die 2001 uraufgeführte Oper „Celan“ des Hamburger Komponisten Peter Ruzickas scheitern ließ?

Auch Kingsleys Komposition ist voller Wärme für die Titelfigur: Er hat Raoul – er tritt im schwarzen Anzug auf – eine extrem-schwierige Partie gegönnt, bravourös meistert Alexej Kosarev ihre Melodiebögen von fast Wagnerschem Ausmaß, unterbrochen, gebrochen von rhythmischem Sprechgesang, oder vom puren beiläufigen Gespräch abgelöst.

Zugleich sorgt die dramaturgische Intelligenz des Librettos für ein Gegengewicht. Spielszenen – sind eher angedeutet als ausgeführt und streng beharrt Julia Haebler auf dieser Abstraktion. Der weiß gekleidete Chor ist die eigentlich tragende Figur: Er symbolisiert die Opfer und zugleich die Täter, die Chorsolisten markieren, als deren Karikaturen, die historischen Akteure – Stalin, Eichmann, General Schmidhuber. Der Chor ist der permanente Blick auf das undarstellbare Geschehen. Teichoskopie, Mauerschau – ist das nicht die Keimzelle der Griechischen Tragödie?

Sicher, die Akustik ist ein Problem und das Schauspielhaus ist auch, fürs Werk, ein wenig klein. Aber die beschämend leeren Ränge wirken durch die ungewöhnliche Ortswahl etwas voller. Und Vorzüge hat sie ja auch und Bühnenbildnerin Monika Gora hat sie erkannt: Eine leere Fläche, eine quaderförmige Anhöhe am linken Rand, eine steil aufs Publikum zulaufende schräge Ebene: So hat sie die Spielfläche in den Raum geklotzt. Auf dass eine beklemmende Nähe zum Geschehen entstehe.

Kingsley ist musikalisch vielsprachig. Und, mit 85 Jahren, in einem Alter in dem man keine Rücksicht mehr auf Konventionen nimmt. Mal erinnern seine Klängen und Schlagwerk-Fantasien an das Idiom Kurt Weills, mancher Song ist so eingängig wie ein Stück von Lloyd Webber. Es gibt Tanzsätze, Walzer, Mazurka, Zigeunermoll, Zitate aus jüdischer Liturgie und immer wieder bricht jene verwirrende Komik durch: Kurz vor der Einnahme Budapests durch die Sowjets schwelgt Wehrmachtsgeneral Schmidhuber in Selbstmitleid. Von seiner verletzten soldatischen Ehre berichtet er im Stile eines slawischen Volkslieds – dessen Melodie doch verdammich an die russische Nationalhymne erinnert. So, wie beim Einmarsch der Sowjets kurz und verzerrt Joseph Haydns Kaiserhymne aufschrillt.

„Raoul“ ist ein Werk nicht fassbar, nicht einzuordnen: Bewegend, mitreißend, ergreifend – und doch nie entlastend. Ein Meisterwerk.