Johan, eine Liebe in Paris

Das Making-of einer Fantasie: „Johan“ von Philippe Vallois spielt in den glücklichen Jahren eines befreiten Umgangs mit schwulem Sex, als von Aids noch keine Rede war. Das macht den wiederentdeckten Film zu einem raren Dokument

Ein paar dramatische Akkorde von Bruckner, ein paar einleitende Worte des Regisseurs („Mein Dank gilt allen, die unentgeltlich an diesem Film mitgewirkt haben“), und schon geht es zur Sache: Nach fünfeinhalb Minuten der erste Fick – es wird viel gefickt in diesem Film –, nach sechseinhalb Minuten das Sperma wieder abgewischt und die Schamhaare aus der Vorhaut gezupft. In „Johan“, diesem französischen Film, der zwar 1976 gedreht wurde, aber erst jetzt in deutsche Kinos kommt, passiert schwuler Sex ganz en passant. Die Männer in Paris haben fast immer Lust. „Johan“ ist aber kein Porno. Vielmehr scheint es, als habe Regisseur Philippe Vallois bereits während der Dreharbeiten geschwant, dass nicht viel Zeit bleiben würde, um lustvoll befreiten schwulen Sex zu dokumentieren. Denn natürlich lauerte zu diesem Zeitpunkt schon Aids hinter den Kulissen, möglicherweise waren die ersten Männer zu diesem Zeitpunkt bereits infiziert.

Man muss „Johan“, der bis vor Kurzem als verschollen galt, als Momentaufnahme aus diesem historisch fingerschnippkurzen Zeitfenster sehen, dieser Zeit Ende der 60er- bis Anfang der 80er-Jahre, in der in einigen westlichen Nationen unter Schwulen eine Ahnung von Selbstverständlichkeit erwachte und Sex noch nicht mit dem Stigma eines tödlichen Virus belegt war – die Jahre, in denen James Bidgood in New York „Pink Narcissus“ drehte, in denen JD Cadinot in Frankreich begann, seine Pfadfinder- und Polizeipornos zu produzieren, und in der hierzulande Rosa von Praunheim berühmt wurde. „Johan“ reiht sich ein in diese Tradition von Filmen, gedreht mit viel Idealismus, kleinem Budget und einer Ästhetik, die man mit heutigem Auge als amateurhaft bezeichnen muss.

Unverschämt enge Hosen tragen die Männer in „Johan“, wenn sie im Sommer im Jardin des Tuileries cruisen gehen: Man weiß gleich, worauf man sich einlässt. Die Zeit, die dadurch gewonnen ist, dass sich Lust schnell befriedigen lässt, verbringen die Akteure – unter anderem Pierre Commoy, wenige Jahre später berühmt als Teil des Kitschkunstduos Pierre et Gilles – damit, rauchend in Cafés zu sitzen, Ballett zu tanzen oder scherzhaft Familienplanung zu betreiben. Besonders politisiert scheinen sie nicht. In erster Linie beschäftigen sie sich damit, über einen gewissen Johan zu reden. Denn das ist „Johan“, wenn man den zeitgeschichtlichen Aspekt mal außer Acht lässt: eine recht kompliziert konstruierte Geschichte um einen Protagonisten, den man im Laufe des Films nie zu Gesicht bekommt. Johan, so wird niemand müde zu betonen, sitzt in Untersuchungshaft. Was man aus Gesprächen und aus Briefen über ihn erfährt, macht nicht gerade Lust, ihn kennenzulernen: Er gilt als Egoist, Narziss, Sadist und Exhibitionist. Im Gefängnis sitzt er wegen Kleptomanie. Allerdings scheint dieser Johan wie eine Sucht zu wirken: Alle Männer schwärmen von ihm, Philippe, ein Regisseur, plant sogar einen Film über ihn. Vorerst bleibt dieser Film indes eine Fantasie. Immer wenn in „Johan“ das Bild vom Schwarzweiß ins Bunte switcht, weiß der Zuschauer: Wir befinden uns jetzt in dieser Fantasie, im Kopf des Filmemachers! „Johan“ ist also gewissermaßen das Making-of einer Fantasie.

Zum Glück, muss man fast sagen, kommt es immer zu spontanem Sex, wenn der Plot allzu wirr zu werden droht. Besonders beeindruckend in diesem Zusammenhang: die Szene, in der der Filmemacher mit einem Eimer Vaseline hinter einem knochigen Riesen hockt, der darauf steht, seinen Kopf in eine Kloschüssel zu stecken, während er gefistet wird. Was genau Philippe Valois mit „Johan“ sagen wollte, bleibt zwar rätselhaft, möglicherweise ist es aber auch nicht wichtig: Ein wertvolles Dokument seiner Zeit ist der Film so oder so. Zugleich Ergebnis und Ausdruck einer Befreiung, die kurze Zeit später von biologischer Seite wieder einen Riegel vorgeschoben bekam, überrascht er mit einer steilen Metapher: das Gefängnis nicht mehr als Ort der Bestrafung für Schwulsein per se, sondern als Disziplinierungsanstalt für Menschen mit schädlichen Trieben. Böse Vorahnungen. JAN KEDVES

Premiere heute Abend im Moviemento Kino mit einem historisch-persönlichen Entrée von Wieland Speck, 21 Uhr