Wenn Frauen besser zeichnen

Die Hamburger Zeichnerin Isabel Kreitz zieht Stoffe vor, die nichts persönlich mit ihr zu tun haben. In ihrer großartigen Graphic Novel „Die Sache mit Sorge“ schildert sie die letzten Monate im Leben von Stalins Topspion in Tokio. Das Buch ist so dick wie ein Roman, und seine Lektüre dauert genauso lange. Ihr Ziel, „kleine schmuddelige Wegwerfheftchen“ zu machen, hat Kreitz damit gründlich verfehlt

Wie oft sie das höre, sagt Kreitz: Dass ihre Sachen aussähen, als habe ein Mann sie gezeichnet. Gemeint ist es als Lob

VON MAXIMILIAN PROBST

Du sitzt als Kind im Auto, auf der Rückbank. Lesen geht nicht, dir würde dabei übel, also musst du etwas anderes machen: Zeichnen zum Beispiel. Die zwei Hinterköpfe, auf die du die ganze Zeit starrst. Und ein paar Worte dazuschreiben, wie du sie gerade hörst: „Diese verdammten Radfahrer sollte man einfach mal überfahren“, heißt es von links, „Ach, reg’ dich nicht auf“, beruhigend von rechts. Aus Mangel an Alternative, resümiert Isabel Kreitz diese Geschichte, habe sie zum Comic gefunden, aus Langeweile wurde sie, was sie ist: Comiczeichnerin.

Längst ist an Stelle der Langeweile die Leidenschaft getreten; längst sind aus kurzen Comicstrips ausufernde Graphic Novels geworden. Comicbücher, die in Umfang und Komplexität mit der Romanform konkurrieren können, so wie ihr gerade im Carlsen Verlag erschienenes Werk „Die Sache mit Sorge – Stalins Spion in Tokio“.

Aus unterschiedlichen Perspektiven schildert die Hamburger Zeichnerin darin die letzten Monate Richard Sorges, jener schillernden Gestalt, die mit entscheidenden Informationen den Kriegsverlauf zwischen dem Dritten Reich und der Sowjetunion mitbestimmte. 1941 teilte er Moskau fast auf den Tag genau die Pläne der Wehrmacht zum Überfall auf die Sowjetunion mit – doch Stalin schlug die Warnung in den Wind. Als Sorge im September berichten kann, dass sich Japan auf einen Krieg gegen die USA vorbereitete, ein Angriff auf die Sowjetunion damit ausgeschlossen sei, reagiert Stalin: Eilig kann ein Großteil der Fernost-Armee an die Front im Westen verlegt und der Vormarsch der Wehrmacht gestoppt werden.

Kreitz zeichnet Sorge als einen Idealisten, für den der Kommunismus „etwas Großes und Schönes“ ist; aber auch als einen Mann, der sich neben der erhabenen Idee dem „süßen Leben“ verschreibt, als Bonvivant, den hübsche Frauen, schnelle Autos und harte Drinks gleicherweise anziehen. Es ist ein rasantes Leben, voller Höhen und Tiefen, das dem Leser in seinem letzten Stadium vorgeführt wird: Niederlagen und Triumph liegen dicht beisammen, Selbstmitleid und Größenwahn auch. Der Druck des Doppellebens, die Verantwortung für den Spionagering kann Sorge am Ende kaum mehr ertragen. Er wird nachlässig, übermütig – und schließlich enttarnt.

Das alles wird in dichten Bildern und knappen Dialogen erzählt. Manchmal verläuft die Unterhaltung auch auf Japanisch, und mehrmals hat die Zeichnerin über Seiten hinweg ganz auf Text verzichtet. Da muss man sich für die einzelnen Panels schon Zeit nehmen. Überhaupt ist das Buch „Die Sache mit Sorge“, an dem Kreitz zwei Jahre lang gearbeitet hat, kein Comic, der sich schnell durchblättern ließe. Detailversessen wie die Bilder gezeichnet sind, bemüht sich die Zeichnerin stets, weit über die Geschichte hinaus die Orte zu erkunden, an denen sie spielt. Etwa die Neorenaissance-Villa mit dem Führer-Bild an der Wand, in der die Parallelwelt der deutschen Botschaft untergebracht ist. Oder die Architektur der japanischen Tempelanlagen und alten Wohnhäuser, mit ihren Schiebetüren und kleinen Holzbalkonen. Am spannensten ist vielleicht die Rekonstruktion des Imperial Hotels von Frank Lloyd Wright, jener wahnwitzigen Symbiose östlichen und westlichen Bauens, die 1976 einem profanen Neubau weichen musste.

Zur Graphic Novel hat Isabel Kreitz die Lust getrieben, Geschichten zu erzählen. Untergegangene Räume rekonstruieren zu können, sei einer der Gründe, weshalb sie es mit Bildern tue. Hinzu komme, dass man beim Schreiben immer versuche, originell zu formulieren – und die Bilder es ermöglichten, sich über Manierismen hinwegzuretten.

Als sie 1988 in der Hamburger Fachhochschule für Gestaltung zu studieren begann, hätten die Professoren die Sprache allerdings ganz ignoriert: „Die Geschichten zu lesen“, erzählt Kreitz, „hat denen viel zu lang gedauert, die haben sich bloß die Bilder angeschaut.“ Überhaupt sei man damals für Comics auf mehr als nur einem Auge blind gewesen. Wer sich mit Comics bewarb, habe bei der Mappenauswahl so gut wie keine Chance gehabt. Was sich Kreitz auch damit erklärt, dass es einfach keine Zeichner gab, die vom Comic leben konnten. Wieso dann jemanden dazu ausbilden?

Erst als Kreitz 1990 für ein Gastsemester nach New York ging, begann in ihr der Entschluss zu reifen, auch beruflich auf den Comic zu setzten. Denn in New York sah sie erstmals, dass es regelrechte Comicunternehmen gibt, eine Comicindustrie, in der jeder der Beteiligten einen Arbeitsschritt übernimmt: ein Skript schreiben, das Storyboard entwickeln, die Geschichte zeichnen, die Zeichnungen kolorieren.

Die Arbeitsteilung hat Kreitz nicht etwa, wie man dem Marx’schen Topos der Entfremdung zufolge hätte erwarten können, abgestoßen, sie hat sie fasziniert. „Es wäre schön so zu arbeiten“, sagt sie, „aber in Deutschland ist das nicht möglich.“ Es fehle am Geld dafür, und so müsse man hierzulande alles allein machen. „Da wird man verwöhnt, verzogen, wird zum Einzeltäter und kann die Kontrolle nicht mehr abgeben. Am Ende ist man versaut für Zusammenarbeit“, sagt sie schmunzelnd. Es klingt nicht so, als ob sie wirklich darunter leide.

Der Ausspruch ist typisch für die Bescheidenheit, die Zurückhaltung, die Kreitz ebenso wie ihrem Werk zu Eigen ist. Ihr schwarzes, schlichtes Kostüm, das sie bei jeder Gelegenheit trägt, drückt diese Bescheidenheit ebenso aus wie ihr ständiger Gebrauch des „man“ oder „du“ an Stellen, wo sie auch „ich“ hätte sagen können. Autobiografisches zu erzählen, wie das mit großem Erfolg gerade Marjane Satrapi in ihrem Comic „Persepolis“ getan hat, ist für sie undenkbar.

Man möchte ihr eine veritable Lust am Unpersönlichen zuschreiben, die auch erklärte, warum Kreitz immer wieder Geschichtsthemen aufgreift. Mit der Adaption von Uwe Timms Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“ begibt sie sich ins kriegszerbombte Hamburg und zugleich in den Schatten eines anderen Autors. In ihrer Comicversion von Erich Kästners „35. Mai“ nimmt sie sich noch weiter zurück: Sie zeichnet das Buch im Stil von Walter Trier, Kästners altem Illustrator.

Als Nächstes will Kreitz eine Graphic Novel über Fritz Harmann zeichnen, den homosexuellen Serienmörder aus Hannover, der in den Anfangsjahren der Weimarer Republik 24 Jungen getötet und anschließend zerstückelt hat – nicht gerade ein klassisches Frauenthema, könnte man meinen. Was es bei Kreitz ohnehin nie gab. Als Diplomarbeit legte sie den Comic „Schlechte Laune“ vor, eine Geschichte über den Hamburger S-Bahn-Surfer Ralf. Bei voller Fahrt die Türen aufstemmen, um sich aus der Bahn zu hängen: auch eher ein Jungens-Ding.

Wie oft sie das höre, sagt Kreitz: Dass ihre Sachen aussähen, als habe ein Mann sie gezeichnet. Oder es heißt: „Von dir hätte ich das gar nicht erwartet.“ Als Lob. Worin nicht Verwunderung über das Thema, sondern über die Tatsache mitschwinge, dass auch Frauen Comics zeichnen können.

Tatsächlich war der Comic lange eine Männerdomäne. Insbesondere in den USA bebilderte er meistens Übermenschfantasien (Supermann) oder, als konträre Kompensationsstrategie, das ewige Verlieren (Donald Duck). Solche Erzeugnisse bekam Kreitz als Kind allerdings nur selten zu Gesicht, höchstens mal auf Klassenfahrten oder im Wartezimmer eines Arztes. In ihrem auf Bildung bedachten Elternhaus, erinnert sie sich, wanderten Mickey-Mouse-Hefte auf direktestem Weg in den Müll. Geduldet wurde nur die europäische Tradition, Hergé mit Timm und Struppi etwa, von dem sie dementsprechend „zwangsbeeinflusst“ sei.

Geschadet hat ihr das scheinbar nicht. 1997 wurde Kreitz für ihre soliden, an der Tradition geschulten Arbeiten auf dem Internationalen Comic-Festival in Hamburg zur besten Comic-Zeichnerin Deutschlands gewählt. Und doch sagt sie, ihr Traum sei immer gewesen, „kleine schmuddelige Wegwerfheftchen“ zu zeichnen.

Zurzeit scheint sie davon weiter entfernt denn je. „Die Sache mit Sorge“ ist ein 240 Seiten starker Wälzer, mit klassischer Fadenheftung gebunden, mit einem stabilen Einband versehen. Als hegte Kreitz die verwegene Absicht, etwas aufbewahren zu wollen für die Nachwelt.

„Die Sache mit Sorge. Stalins Spion in Tokio“, 256 Seiten, 19,90 Euro