„Ein Erbe, das wir vernachlässigen“

Am Donnerstag eröffnet Julian Nida-Rümelin mit dem Vortrag „Philosophie und Lebenswelt“ das viertägige Festival der Philosophie in Hannover. Der Professor und Kulturstaatsminister außer Dienst über ein neues Interesse an der Philosophie und den Spagat zwischen Seminar und Gartenparty

INTERVIEW DEE-UNG MOON

taz: Herr Nida-Rümelin, die Philosophie will sich in Hannover einer breiteren Öffentlichkeit präsentieren und lässt sich nun erstmalig in Deutschland mit einem Festival feiern. Hat die Philosophie etwa mit einem Image-Problem zu kämpfen?

Julian Nida-Rümelin: Teilweise. Wenn wir uns die lateinischen Länder wie Italien, Frankreich, Spanien und teilweise auch Südamerika anschauen, ist dort die Philosophie sehr präsent in der Öffentlichkeit. In Frankreich ist Philosophie ja ein zentrales Fach an den Schulen und hat dort den gleichen Stellenwert wie der Deutschunterricht hierzulande. Und während merkwürdigerweise in Deutschland die Philosophie als Schulfach eine marginale Rolle spielt, lernen in den genannten Ländern viele junge Leute Deutsch, um einen Zugang zur Philosophie zu finden. Stichwort Kant, Heidegger, Hegel und Wittgenstein. All diese Namen stehen für einen deutschsprachigen Beitrag zur modernen Philosophie. Ein großes Erbe, das wir vernachlässigen. Das Festival der Philosophie in Hannover kann man jetzt allerdings als Ausdruck eines neuen Interesses an der Philosophie verstehen.

Nun haben nicht alle die Zeit, philosophische Bücher zu lesen. Kann man interessierten Laien bestimmte philosophische Positionen vorstellen, ohne sie zu trivialisieren?

Es gibt einen Spagat, den die Philosophie aushalten muss wie kein anderes Fach. Einerseits ist sie eine akademische Disziplin, die ihren wissenschaftlichen Charakter nicht verlieren darf. Andererseits besteht die Gefahr, dass sie sich allein auf ihre Wissenschaftlichkeit beschränkt, was ein großer Irrtum wäre. Die Philosophie muss auch über die Grenzen der akademischen Disziplin hinaus wirken, sonst wird sie irgendwann irrelevant. Deswegen finde ich es wichtig, dass Philosophen Bücher schreiben, die auch in einem breiteren Leserkreis Aufnahme finden. Auch deswegen sind solche Festivals wie jetzt in Hannover so wichtig.

Es scheint aber bisweilen so, dass die philosophische Reflexion selbst auf etwas zielt, das sich einer einfachen Übertragung auf den Alltagsverstand entzieht. Heidegger sagte einmal, dass die Philosophie nicht Probleme lösen, sondern, im Gegenteil, das Dasein erschweren solle.

Also das sehe ich anders als Heidegger. Ich glaube, dass philosophische Fragestellungen so gut wie jedes Leben begleiten. Das beginnt im Kindesalter. Kinder stellen sich permanent philosophische Fragen. Diese Fragen werden im Laufe des Heranwachsens von anderen Dringlichkeiten verdrängt, kommen in späteren Jahren mit Macht zurück, oft auch in Lebenskrisen. Was für Wertorientierungen leiten mein Leben und passen sie überhaupt zusammen? Wie halte ich die Spannung aus zwischen Eigeninteresse und den Verpflichtungen gegenüber anderen. Solche ethische Fragen, zusammen mit bestimmten metaphysischen Fragen, stellen die Fragen unserer Lebenswelt dar. Und die Philosophie ist wie keine andere Wissenschaft sehr nah an ihnen dran.

Das war in der Philosophiegeschichte auch mal anders.

Dort, wo die Philosophie diesen lebensweltlichen Bezug kappt, wie es in diesen geschwollenen rationalistischen Systemen der frühen Neuzeit oder im deutschen Idealismus etwa passiert ist, geht sie in die Irre. Dann wird die Philosophie zu einer Spezialdisziplin mit Eingeweihten und Nichteingeweihten. Und das muss dann korrigiert werden. Was Anfang des 20. Jahrhunderts auch geschehen ist. Durch den Wiener Kreis, den amerikanischen Pragmatismus, die kritische Theorie, Wittgenstein oder andere.

Wenn sich Philosophen in einer so genannten allgemein verständlichen Sprache zu lebensweltlichen Themen äußern, wirkt diese Komplexitätsreduktion oft wie ein weltlich-allzuweltliches Wort zum Sonntag.

Den gleichen Befund kann man positiv wenden. Es gibt einfach Fragen nach Lebensorientierung. Wenn die Philosophie auf diese nicht eingeht, dann gibt es andere Instanzen, die das übernehmen. Man braucht nur in die Buchhandlung zu gehen und sich die prall gefüllten Esoterikregale anzusehen oder die pseudowissenschaftliche Beratungsliteratur, die gegenwärtig boomt. Da werden Themen traktiert, die die Philosophie über Jahrzehnte hinweg, vielleicht aus einem Dünkel heraus, vernachlässigt hat. Das rächt sich jetzt. Die Philosophie war über Jahrhunderte hinweg auch mit der Frage des gelungenen Lebens beschäftigt. Sie war eine Lebenskunstlehre. Aber ab einer bestimmten Phase der Moderne hat sie das auf der Suche nach der reinen Wissenschaftlichkeit ohne Not aufgegeben.

Und heute?

Mein Eindruck ist, dass sich die Philosophie seit etwa drei Jahrzehnten dieses Terrain zurückerobert. Deswegen diese starke Betonung von Ethik, Bioethik, ökologischer Ethik, Rechtsethik. Ethik ist eines der Gravitationszentren der zeitgenössischen Philosophie. Das ist alles andere als die Predigt am Sonntag mit anderen Mitteln. Da geht es um eine Klärung lebensweltlicher Fragen, die eben unabhängig ist von spezifischen religiösen und weltanschaulichen Orientierungen. Die Philosophie ist ein Hilfsmittel für begriffliche Klärungen. Anleiten zur eigenen Urteilsfähigkeit – das ist die Rolle, die sie wahrnehmen muss.

Was sagen sie dann zu dem inflationären Gebrauch des Wortes Philosophie? Alles und jeder hat eine Philosophie. Nahezu jedes Unternehmen behauptet, eine eigene Firmenphilosophie zu haben.

Die so genannte Philosophie der Gartenparty, ja. Wenn man das ein wenig selbstironisch nimmt, kann man sagen, dass es offenbar einen Bedarf nach einer gewissen Klärung gibt. Wenn ein Unternehmen sagt: „Wir brauchen eine Unternehmensphilosophie!“, dann meinen sie in etwa: „Wir müssen uns verständigen auf bestimmte Normen, Werte und Regeln“. Ja, in der Tat! Und das lernt man nun nicht unbedingt in der Controllingabteilung. Insofern finde ich das nicht so tragisch. Es zeigt einen Bedarf nach Klärung, die nicht einfach mit den Methoden der Statistik zu erreichen ist. Das philosophische Fragen ist nun mal umfangreicher als es eine akademische Disziplin erfassen kann. Nur wäre es wünschenswert, wenn diejenigen, die von Philosophie sprechen, auch gelegentlich die Philosophie als wissenschaftliche Disziplin zur Kenntnis nehmen würden.

Fotohinweis:Philosoph im Fokus der Öffentlichkeit: Julian Nida-Rümelin, 53, als Kulturstaatsminister (2001/2002). Er lehrt heute in München FOTO: AP