Auf der Reise zu sich selbst

Hans-Ulrich Treichel beschreibt eine Suche nach der Herkunft, spielt mit autobiografischem Material und erweist sich erneut als leichtfüßiger Erzähler: der Roman „Anatolin“

VON JÖRG MAGENAU

Es gehört zum harten Arbeitsalltag von Schriftstellern, dass sie nach Lesungen immer wieder gefragt werden, ob ihre Geschichten denn eigentlich autobiografisch seien. Einer, der besonders unter dieser Frage leidet, ist Hans-Ulrich Treichel. In seinen Romanen berichtet er immer wieder von einer eher deprimierenden Kindheit in Ostwestfalen und deren biografischen Folgeschäden. In seinem Bestseller „Der Verlorene“ untersuchte er die besondere Leerstelle dieser Kindheit: Ein älterer Bruder ist den Eltern 1945 auf der Flucht in den Westen verloren gegangen. Doch als abwesender Untoter übernahm er die Hauptrolle in der schuld- und schambeschwerten Familie. Der Ich-Erzähler hatte keine Chance, vor den Eltern gegen dieses Phantom zu bestehen.

In „Menschenflug“ schilderte Treichel dann den Fall eines Mannes, der als Erwachsener nach dem Bruder weitersucht – diesmal nicht in Ich-Form, sondern mit einer fiktiven Figur als Stellvertreter. In seinem neuen Roman „Anatolin“ – dem dritten über den verlorenen Bruder – tritt er wieder in Ich-Form auf. Doch wer ihn auf das Autobiografische festnageln möchte, der muss Erklärungen wie diese verkraften: „Nicht nur meine Bücher halte ich nicht für autobiografisch. Ich halte auch mich selbst nicht für autobiografisch.“

Der Ich-Erzähler kann das behaupten, weil er an einer „biografischen Verstörung“ zu tragen hat. Er behauptet, an Kindheitserinnerungslosigkeit zu leiden, was ihn allerdings nicht daran hindert, von dieser Kindheit recht ausführlich zu berichten. Treichel, 1952 in Versmold geboren, hat in seinen Büchern hartnäckig Ostwestfalen in eine literarische Landschaft verwandelt. Doch jetzt erfährt man, dass dort, wo Kindheitserinnerungen gedeihen sollten, nur „eine verregnete, flache und baumlose Landschaft, die nicht aufhören wollte“, zu finden ist. Erschwerend kommt hinzu, dass er im engeren Sinn gar kein Ostwestfale ist, sondern Kind von Eltern aus dem Osten, von „Eltern ohne Lebenslauf“. Seine biografische Verstörung hat er geerbt, weil die Eltern über ihre Herkunft und alles, was vor der traumatischen Flucht geschah, nicht reden wollten. Seine ersten Worte waren „Warthegau“ und „Lastenausgleich“. So steht es jedenfalls im Roman.

Doch Vorsicht: Treichel betreibt ein Verwirrspiel mit dem autobiografischen Material. Die Verhältnisse, die er in „Der Verlorene“ beschrieb, stimmen nicht immer mit denen in „Anatolin“ überein. Der Vater betrieb dort einen Lebensmittel-Großhandel mit Kühlhaus, hier einen kleinen Zigarettenhandel. Und auf einmal gibt es auch noch zwei jüngere Brüder des Erzählers, von denen früher nicht die Rede war. Das Autobiografische steckt, wenn überhaupt, nicht in den Details, sondern im Atmosphärischen. Die Literatur nimmt andere Wege als die sogenannte Wirklichkeit. Ob die Kunst eher das Leben oder das Leben mehr die Kunst nachahmt, ist unter Experten sowieso umstritten.

Treichel ist ein leichtfüßiger, eleganter Erzähler, der mit viel Humor die Traurigkeiten und Unzumutbarkeiten des Daseins überwindet. So viel er auch von diesem „Ich“, das da spricht, preisgibt, so betrachtet er es doch stets mit ironischer Distanz. Einer, der an Biografie- und Erinnerungslosigkeit leidet, hat der Vorteil, sich selbst wie einen Fremden wahrnehmen zu können. „Ich dachte daran, dass ich wohl darunter litt, aber nicht spürte, dass ich litt“, hieß es im „Verlorenen“ zum Tod des Vaters. Das ist ein zentraler Satz. Treichel erzählt von den tauben Stellen der Erinnerung und der Empfindung und zeigt gerade dadurch den Schmerz. Es ist stets das Abwesende, was sich bemerkbar macht – ein Zustand, der sich nun auf die ganze Biografie bis in die Gegenwart hinein ausdehnt.

Schreiben ist ein Akt der Selbstentblößung, die aber, da es sich zugleich um eine Selbstverwandlung handelt, aufgehoben ist. Es ist selten, dass ein Erzähler die Bedingungen und Winkelzüge seines Schreibens im Text reflektieren kann, ohne dass das zu einem Bruch führt. Treichel kann das. Sein Roman ist auch so etwas wie eine Poetikvorlesung, bleibt aber auch in diesen Passagen ganz und gar erzählerisch. Da merkt man, dass er nicht nur Schriftsteller ist, sondern auch als Professor am Leipziger Literaturinstitut lehrt. „Anatolin“ könnte die vertrackte Vorlage für ein Seminar zu autobiografischem Schreiben sein.

Die Suche nach der Herkunft mit Reisen in die Geburtsorte der Eltern – ins ukrainische Bryschtsche und ins polnische Anatolin – wird zu einer konsequenten Besichtigung Absurdistans: Die leere Landstraße in Polen sagt nichts aus über die eigene, in der Erinnerungslosigkeit verschwindende Biografie. Es ist unsinnig, dort nach etwas zu suchen, was in Ostwestfalen nicht zu finden war. Und doch geht die Suche weiter. Der Osten, der ja auch in Ostwestfalen steckt, verspricht all die Intensität und Erlebnisfülle, die der Westen verweigert. In Bryschtsche entdeckt der Erzähler ein junges Mädchen unter einem Kirschbaum, das gedankenverloren eine Kuh mit frisch gepflückten Kirschen füttert. Diese Szene, so glaubt er, wird für das Mädchen einmal eine schöne, brauchbare Kindheitserinnerung sein. Er, der nur das verregnete Nirwana in Versmold und um Versmold herum zu bieten hat, beneidet sie sehr.

Vielleicht ist diese Szene autobiografisch. Vermutlich hat Treichel diese Reise tatsächlich unternommen. Aber das spielt keine Rolle. Wer keine Biografie hat, der schreibt sich eben eine. Deshalb wird er Schriftsteller.

Hans-Ulrich Treichel: „Anatolin“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008, 190 Seiten, 17,80 Euro