Leuchtende Momente

Zehn junge Schriftstellerinnen und Schriftsteller versammeln sich in Hildesheim und erzählen sich ihre Poetiken – „Treffen. Ein Werkstattbuch“

VON DIRK KNIPPHALS

Fotografien spielen im Literaturbetrieb schon seit langem eine bedeutende Rolle. Das komplizierte Sozialverhalten der Gruppe 47 – wer sitzt in der ersten Reihe; wo ist Reich-Ranicki, wo Jens und wer war noch dabei? – kann man auf Fotos studieren; ein Mann mit der Kamera war oft genug anwesend. Im großen Saal des Literarischen Colloquiums Berlin, immer mal wieder zentraler Ort des Betriebs, hängen Schriftstellerporträts an allen Wänden. Lesungen finden hier unter Aufsicht von fotografierten Kollegen statt. Von Richter bis Schmitter, von Delius bis Klein – wie eine Ehrengalerie sieht das aus und ein wenig auch wie ein Walhalla. Dass man als Schriftsteller nie allein ist, selbst wenn man einsam über Manuskripten brütet, das kann man hier sehen. Die Literatur ist auch ein ausufernder Familienzusammenhang.

Und selbstverständlich fallen einem auf der Stelle die Autorenporträts der Isolde Ohlbaum ein. Hat man nicht sofort irgendwelche Schriftsteller, die vor Bäumen posieren, im Kopf? Schriftsteller als Teil der Natur zu inszenieren, gerne mit einem seherischen Blick in die Ferne (oder einem strengen Blick auf den Betrachter), das war lange geradezu Mode in der bundesrepublikanischen Autorenfotografie.

Dies alles nur, um einer möglichen bildungsbürgerlichen Abwertung der Tatsache, dass in dem hier vorgestellten Buch viele Fotos vorkommen, von vornherein einen Riegel vorzuschieben. Dass eine Fotostrecke Teil des Konzepts ist, ist noch gar nicht so bemerkenswert. Schließlich lässt sich die gesamte Literaturgeschichte seit Erfindung der Kamera anhand von Fotos schreiben. Freilich sehen die Bilder in diesem Band anders aus, als man es gewohnt ist. Man sieht junge Leute am Frühstückstisch. Man sieht Brillenträger in H&M-Schick auf einem Waldspaziergang. Man sieht Menschen mit einer Videokamera. Man sieht Frauen mit Schal. Man sieht, dass miteinander geredet wird. Eine Rangordnung ist nicht erkennbar. Was man nicht sieht, sind Schriftstellerposen und bedeutsame Blicke, die Tiefe signalisieren sollen.

Man kennt diese Art der Bildproduktion (Fotograf: Michael Frahm) eher aus Musikzusammenhängen. Wie Standbilder aus einem Tourfilm einer Popband wirken die Fotos, sagen wir einer Gruppe, die, etwas verspätet, die „Quiet is the new loud“-Bewegung repräsentiert. Hier werden Autoren als Mitglieder einer Produktionseinheit inszeniert, die zusammen wie in einem Aufnahmestudio etwas auf die Beine stellen will; kleine Genervtheiten inklusive. Wie geträumt wirken manche Bilder. Und der Traum heißt: Hier kann jeder er selbst sein, und doch kommt, wenn man alle Talente zusammennimmt, etwas Gemeinsames dabei heraus. Aber ein bisschen sieht das alles auch nach einem Klassenausflug aus.

Letzteres verdankt sich dem Arrangement, dessen Ergebnis das Buch „Treffen. Poetiken der Gegenwart“, eine Publikation der Literaturzeitschrift Bella Triste, darstellt. Im Umfeld des Hildesheimer Studienganges für Kreatives Schreiben wurde im Stadtteil Himmelsthür eine Villa angemietet, und zehn junge Schriftstellerinnen und Schriftsteller wurden eingeladen, dort ein paar Tage miteinander zu verbringen. Bedingung: Sie sollten jeweils einen Text, ihre Poetik, mitbringen, und darüber sollte zusammen diskutiert werden. Es kamen Jörg Albrecht, Jagoda Marinić, Thomas Pletzinger und Thomas von Steinaecker, die bereits in Literaturhäusern und Verlagskatalogen auftauchen. Harriet Köhler kam krankheitsbedingt nicht, schickte aber eine Poetik. Und es kamen Autoren wie Florian Kessler oder Lennart Sakowsky, bei denen man nicht weiß, ob sie noch Schreibstudenten oder schon Geheimtipps sind.

Der Band versammelt die Poetiken sowie Ausschnitte aus den stattgefunden habenden Diskussionen. Er ist auf der einen Seite eins der Bücher, von denen auch die Herausgeber nur im Traum annehmen, dass sich mehr als Spezialisten dafür interessieren werden – in diesem Fall allerdings zusätzlich noch die offenbar nicht eben kleine Szene von jungen Menschen, die darüber nachdenken, sich bei den Literaturstudiengängen in Leipzig oder Hildesheim zu bewerben. Auf der anderen Seite ist der Band aber unbedingt auch ein Dokument. Man kann ihm nicht allein entnehmen, was heutige Frauen und Männer dazu denken, dass sie mit dem Schreiben anfangen („Es schreibt sich in diesen schönsten, leuchtendsten Momenten etwas von der Zerrüttetheit der Welt“: Jagoda Marinić; „Manchmal, vielleicht, für Momente bloß, könnte etwas wie eine Militanz der Bilder entstehen“: Florian Kessler; „Nein nein: Ich schreibe natürlich einfach, und vor allem solche Poetiken wie diese bloß, weil man davon lebt“: Ann Cotten; „Gegen die ständige Bewusstheit und zur Aussteifung des episodischen Erinnerns muss man Strukturen in Anschlag bringen, Handlungen/Geschehen ausfalten, Narration betreiben“: Steffen Popp). Darüber hinaus finden sich alle Themen, mit denen sich unweigerlich herumschlägt, wer mit dem Schreiben anfängt. Reflektiert wird, dass man auf einen Literaturmarkt trifft, dass man sich zwischen dem Avantgarde-Pol und dem Narrations-Pol verorten muss, dass amerikanische Erzähler oft gute Vorbilder abgeben, dass es auch Leser gibt und manches mehr.

Wer sich nur ein bisschen mit der deutschsprachigen Literatur beschäftigt hat, wird vieles wiedererkennen. Es existiert wohl nur ein begrenzter Vorrat an Ideen, Themen und Sätzen, auf den irgendwann jeder kommt, der ernsthaft schreibt. Interessant machen diesen Band eher unterschwellige Verschiebungen. So müssen heutige Autoren um die dreißig offenbar ihr Schreiben nicht mehr ganz so als Ausdruck existenzieller Kämpfe begreifen, wie das noch bis weit in die Siebzigerjahre hinein üblich war (und bis heute zuverlässig mit Büchnerpreisen belohnt wird). Das Schreiben als existenzieller Ernstfall und fast schon als Notwehr gegen das Herkommen und den Zustand der Welt – dieses Motiv ist in diesen Poetiken zurückgedrängt. Manchmal hat man beim Lesen den Eindruck, als würden sich die Autoren geradezu selbst darüber wundern, dass sie eine so stählerne Schriftstelleridentität nicht mehr hinkriegen. Manche strengen sich dann fast musterschülerhaft an, das noch zu tun. Die meisten aber nehmen es gelassen und erzählen in ihren Poetiken davon, woher sie ihre Eindrücke bekommen, wie sie mit der Sprache umgehen möchten und in welche Kontexte sie sich gestellt sehen.

Dass das viele Jahre lang beliebte Spiel der harschen Abgrenzung von den Vorgängergenerationen dabei inzwischen nicht mehr funktioniert, kann man am besten in dem Beitrag von Thomas Pletzinger lesen. Anlässlich einer Lesung findet er vollkommen glaubwürdig sogar wirklich bewundernde Worte für einen Günter Grass; daran, sich an den Platzhirschen des Literaturbetriebes ernsthaft zu reiben, sind diese Autoren nicht mehr interessiert.

Sagen wir so: Wem die vielen aktuellen Autorennamen sowieso zu wimmelig erscheinen, kann ja weiter über die in seinen Augen beliebigkeitsfördernde Vielfalt der Autorenpreise meckern und sich klammheimlich für eine Mitgliedschaft in der Akademie für Sprache und Dichtung bewerben. Wer sich aber wirklich dafür interessiert, warum Menschen die Literatur so bedeutsam aufladen können, dass sie auf die seltsame Idee verfallen, ihr Leben dem Bücherschreiben zu widmen, der findet in diesem Band interessantes Material.

Dass sich die Leistung eines Autors aber nicht an Fotos, sondern allein an seinen Texten bemisst, ist ja eh klar.

Martin Bruch u. a. (Hg.): „Treffen. Poetiken der Gegenwart. Ein Werkstattbuch“. Bella Triste, Hildesheim 2008. 272 Seiten, 15 Euro, www.bellatriste.de