„Das Buch war ein Panikraum für mich“

Silvia Bovenschens Werk ist schmal, hatte aber von Anfang an sein Publikum. Nach ihrer Dissertation „Die imaginierte Weiblichkeit“, die den feministischen Diskurs in Deutschland auf große theoretische Höhen schraubt, macht sich bald einen Namen als Essayistin. Sie schreibt über Mode, als das innerhalb der Intelligenzia noch für degoutant gehalten wird, über Pornografie, Freundschaft, den Tod. Bovenschen arbeitet bis Ende der 90er-Jahre als Dozentin für Literaturwissenschaft an der Uni Frankfurt, ist dann Jurorin beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis-Lesen. „Schlimmer machen, schlimmer lachen“, ihre gesammelten Essays, werden mit viel Beifall bedacht; einen immerhin mit zwei Literaturpreisen gewürdigten Coup landet sie indessen mit ihrer Studie „Über-Empfindlichkeit“, in der sie das Empfindungsphänomen der Idiosynkrasie beschreibt. Dann die Hinwendung zur Belletristik. Vor zwei Jahren veröffentlicht sie ihren grandiosen Notizenband „Älter werden“ und jetzt erstmals Erzählungen: „Verschwunden“ (Fischer, Frankfurt am Main 2008, 167 Seiten, 17,90 Euro).

Mit „Älter werden“ landete Silvia Bovenschen vor zwei Jahren einen Bestseller, nun schrieb die Literaturwissenschaftlerin Erzählungen. Ein Gespräch über das Leben, den Tod und die Angst vor Peinlichkeit

INTERVIEW FRANK SCHÄFER

taz.mag: Frau Bovenschen, um das gleich loszuwerden: Ihr Notizenband „Älter werden“ ist ganz großartig. Ihr neues Buch „Verschwunden“ ist auch sehr gut, aber „Älter werden“ …

Silvia Bovenschen: … gefällt Ihnen besser.

Ja, einfach weil es noch näher dran ist. Ihr neues Buch nimmt das wieder etwas zurück, spielt schon wieder im Schutzraum der Fiktion.

In dem Moment, wo man das in irgendeiner Weise literarisiert, distanziert man natürlich auch. Das ist ja klar. Und das hat mir dann auch gefallen. Ich kann ja nicht endlos solche Notizen schreiben zu allen möglichen Themen.

Nein?

Nein, das hätte mir nicht gefallen. Das wurde mir schon nahegelegt natürlich. Im Grunde ist mehr Herzblut in „Verschwunden“, ich musste mich disziplinieren, ich musste mich mächtig anstrengen, dass es kompositionell hinhaut. Das Literarische ist auch sehr viel gefährlicher. Die Notizen habe ich natürlich auch stilistisch überarbeitet, aber bei der Arbeit an einem literarischen Buch hat man kein Sicherungsnetz, es kommt auf jedes Wort an, man kann durch ein paar Fehler alles versauen.

Aber die Komposition der einzelnen Miniaturen, Aphorismen, Fragmente, oder wie immer man diese Texte nennen will, spielt doch bei „Älter werden“ durchaus auch eine Rolle, eine reine Addition ist es doch gar nicht.

Ja, natürlich. Sie haben vollkommen recht. Ich will da auch gar keine so große Kluft aufmachen. Wenn ich mal zurückschaue, dann waren es vom wissenschaftlichen Arbeiten zum immer subjektiver werdenden Erzählen – das mag sich aus fremder Sicht anders ausnehmen – für mich schon gewaltige Schritte. Subjektiv habe ich das Gefühl, dass dieser Schritt von den Notizen hin zu den literarisierenden Formen noch einmal größer gewesen ist. Aber vielleicht haben Sie recht, und das stimmt überhaupt nicht.

Ihre Arbeitsweise würde mich interessieren. Ich vermute, die Notizen sind schon im Hinblick auf ein Buch entstanden und nicht etwa das Ergebnis einer Arbeit, die Sie ohnehin machen.

Nein, ich schreibe kein Tagebuch und mache mir auch verhältnismäßig wenig Notizen. Diese Notizen sind entstanden, weil ich ursprünglich mal einen Essay schreiben wollte und daran gescheitert bin – oder keine Lust hatte. Und dann habe ich mich hingesetzt und gedacht, jetzt machst du dir einfach mal Gedanken darüber – man wird ja jeden Tag älter –, wann du in jungen Jahren selber gemerkt hast, dass du älter geworden bist. Da nimmt man von diesem Vorgang ja noch nicht so viel Notiz. Wenn man alt ist, klar, da ist das ein heißes Thema, da spricht man mit seinen Freunden darüber, aber in jungen Jahren stellt man höchstens mal das erste graue Haar fest. Dann habe ich mir also immer mehr Notizen gemacht und fand es dann auch subjektiv immer interessanter, was ich mir aus meinem zerrütteten Gedächtnis herausholte und mir selbst erzählen konnte.

Sie brauchen offenbar ein größeres Thema, einen Forschungsgegenstand – man könnte sich ja gut auch einen thematisch heterogeneren Notizenband vorstellen.

Woran denken Sie jetzt? An Montaigne oder Lichtenberg?

Ja, oder auch Canetti.

Aber selbst die haben das ja schon thematisch gebündelt. Selbst in den Sudelbüchern tauchen immer wieder ähnliche Themenfelder auf, weil die Lichtenberg besonders interessiert haben. Zu den Themen, die mich interessieren, nehmen Sie Freundschaft oder Tiere, habe ich auch immer wieder Essays geschrieben, man hat da natürlich so bestimmte Dollpunkte. Und man ist auch disziplinierter, wenn man sich nicht jeden Gedanken, der einem morgens mal durchs Gehirn huscht, aufschreibt, sondern sich ein bisschen fokussiert auf thematische Felder, wo man gewisse Zuständigkeiten hat. Ich könnte mir nun schlecht Notizen über Atomphysik machen.

Aber die thematische Bündelung schließt schon eine Menge Gedanken einfach aus, die vielleicht ebenfalls von Relevanz oder doch zumindest von Interesse gewesen wären.

Na ja, „Älter werden“ ist schon ein ziemlich weites Feld. Und das Thema Verschwinden in dem neuen Buch auch – das geht vom kleinen Alltagsmalheur bis zum Tod, das ist schon eine enorme Spannweite dessen, was Sie berühren können. Aber Sie haben wahrscheinlich recht, offensichtlich brauche ich eine Klammer, in die ich das jeweils stellen kann.

Man hat den Eindruck, dass es sich bei „Verschwunden“ eher um ein Selbstgespräch handelt, die handelnden Personen kommen einem fast vor wie unterschiedliche Gemütszuständen der Autorin.

Ja und nein. Man hat ja auch mehrere Ichs. Und man ist nicht immer seiner Meinung. Sie können Figuren relativ schnell, durch Beschreibungen, durch Adjektive sozial und psychologisch ausstatten. Das habe ich ganz bewusst nicht gemacht. Es geht ja auch ums Erzählen die ganze Zeit. Der ursprüngliche Arbeitstitel des Buchs war „Wer spricht, lebt“. Es wird ja auch mal gefragt, warum erzählen sich Menschen andauernd etwas. Über das Erzählen versuchen sie sich sichtbar zu machen. Die Figuren sollten also hauptsächlich durch das, was sie sagen und erzählen, sichtbar werden und nicht so sehr darüber, was andere über sie sagen oder was ein auktorialer Autor über sie zu sagen hätte. Das wollte ich ganz bewusst nicht. Mag sein, dass der Ausstattungsmangel eine gewisse Verkargung bedingt. Das wollte ich so. Wenn man so einen unerwarteten Erfolg hat wie ich mit „Älter werden“, dann ist man schon auch gezwungen, mal darüber nachzudenken, wie der zustande kommt. Das ist mir erst im Nachhinein aufgefallen: „Älter werden“ enthält ein sehr reiches Angebot Ich habe durch Briefe und in Gesprächen gemerkt, dass sehr unterschiedliche Leute da sehr Unterschiedliches herausgeholt haben. Es gab Leute, die haben durchgelacht, es gab Leute, die fanden es furchtbar tragisch, aber doch schön. Ich habe nur immer gestaunt …

Durchgelacht?

Ja, ich hatte eine Lesung, da habe ich fast die traurigsten Stellen aus dem Buch vorgelesen, und die haben gebrüllt vor Lachen. Ich kann es Ihnen auch nicht erklären, aber ich nehme das so, wie es war. Der Berliner würde sagen: Ooch jut! Mir ist alles recht. Aber ich habe an der Rezeption dieses Buchs gemerkt, dass unterschiedliche Jahrgänge und Typen das Buch ganz unterschiedlich gelesen haben. Also, wenn man das planen wollte, man würde es nicht hinkriegen. Ich habe es ja auch nicht geplant, es ist einfach eingetreten. „Verschwunden“ ist ein ganz anderes Buch, es hat nicht diese vielen Einstiegsmöglichkeiten. Manche von denen, die es sehr gern mögen, sagten, dass ihnen der Einstieg etwas schwerer gefallen sei. Das ist mir aber auch recht. Ich will ja auch nicht Autorin fürs Sonnige sein. Aber ich finde auch „Verschwunden“ – wenn man als Autorin dazu überhaupt noch eine Meinung haben darf, eigentlich darf man das ja nicht – in Teilen auch ganz witzig.

Ja. Gerade die Exaltationen von Frederike sind schon sehr witzig, und wenn die dann auch noch konterkariert werden durch die Wertungen von etwa Celia …

Ja, das hat mir auch besonders Spaß gemacht, in einem zweiten Arbeitsgang diese Figuren dann noch einmal aufeinander zu hetzen. Und wenn Sie sagen, ich sehe Sie da in verschiedenen Facetten, das ist auch in mir. In mir tobt auch so ein merkwürdiger – Kampf wäre vielleicht übertrieben, aber ich habe mir mein halbes Leben dadurch versaut, dass mir alles peinlich war, ich sah mich immer schon auf der Bananenschale ausrutschen. Das hat mich früher unglaublich gehemmt, dieses neben mir stehende zweite Ich, das immer sagte, noch einen Schritt weiter, und dann machst du dich lächerlich. Und komischerweise, das was mich früher gehemmt hat, das hilft mir jetzt; diese Möglichkeit, mich immer komisch zu finden oder in Situationen selbst zu beobachten, das hilft mir jetzt beim Schreiben.

Es fällt auf, dass „Verschwunden“ in „Älter werden“ eigentlich schon angelegt ist. Sie sprechen da einmal von „Fristen“, die man gewährt bekommt in den Momenten völliger Gegenwärtigkeit, im „Kairos“ sozusagen. Das ist ja schon die Poetik von „Verschwunden“, wo die einzelnen Erzählungen genau diesen Zweck haben, die totale Gegenwart herzustellen, um den Schrecken, den drohenden Verlust des Lebens vergessen zu machen.

Absolut. Ich war zu dieser Zeit, ich habe es ja vorhin angedeutet, muss da ja auch nicht drum herumreden, in einer katastrophalen Verfassung. Ich habe ja MS und hatte da gerade meine zweite Krebsdiagnose bekommen, und es waren noch andere Bedrohlichkeiten hinzugekommen. Ich war zum ersten Mal in meinem Leben in einer absoluten Paniksituation. Ich bin kein ängstlicher Mensch im Großen und Ganzen, und diese Situation war für mich neu. Und ich dachte wirklich, du kannst nicht dauernd Angst haben. Du kannst im Moment an der Sache nichts ändern. Ich musste das, was da kommen würde, was ich zum Teil auch kannte, auf mich nehmen und gucken, ob ich da noch einmal durchkomme, und das Buch war ein Panikraum für meinen Geist. Und dann habe ich mich erinnert, dass meine lieben Freunde vom Fischer Verlag mal fragten, was machst du denn als Nächstes? Und da habe ich denen gesagt, ich komme ja nicht mehr herum, ich stelle euch ein Aufnahmegerät hin, und dann müsst ihr mir alle Geschichten erzählen, und die müsst ihr mir dann schenken. Eigentlich eher ein Witz. Das fiel mir dann wieder ein, und ich dachte, die kannst du dir ja auch selbst erzählen. Und dann habe ich angefangen, diese Geschichten aufzuschreiben, und das ging irgendwie flott, ich hätte noch zwanzig weitere schreiben können. Und dann hat sich die Situation entspannt, und dann dachte ich, ach, so Geschichten, das ist ja eigentlich langweilig, du musst da noch etwas bauen. Und dann habe ich wirklich vier Wochen nichts anderes gemacht, habe mich morgens vermuffelt hingesetzt und bin abends um zehn ins Bett gegangen. Also, ich bin wirklich verwahrlost.

Das kann man sich gar nicht vorstellen, wenn man Sie so sieht.

Ich hätte es mir auch nicht vorstellen können, ich hatte das ja auch noch nie vorher gemacht. Auch unter Arbeitsdruck habe ich mir doch eine gewisse Appetitlichkeit erhalten können, aber das war heftig. Und dann entspannte sich alles, die Operation gelang. Also habe ich das Manuskript nochmal drei Monate in den Kühlschrank gelegt, aber im Großen und Ganzen stand es. Danach kam eine sehr viel bessere Zeit, da habe ich herumgespielt, die Sachen verstrebt, Anspielungen eingewebt, zum Beispiel in einem Frederike-Monolog mal das ganze Jakob-von-Hoddis-Gedicht „Weltende“ durchdekliniert, das muss aber niemand merken, das waren dann die Späße, die ich mir geleistet habe. Literatur ist natürlich auch Spielen. Das war die reine Gegenwärtigkeit, da hat man wirklich ein second life, eine zweite Bühne. Man muss sich darauf konzentrieren, wie der nächste Satz, das nächste Wort lautet. Das muss man hinkriegen, und in der Zeit kann man nicht mehr darüber nachdenken, wie lange man jetzt noch leben kann. Aber die finsteren Elemente dieser Situation sind in dem Buch.

In „Älter werden“ sprechen Sie einmal von der Schwierigkeit, sich vorzustellen, dass Sie irgendwann tot sein werden und es dann auch ganz egal sein wird, dass es Sie einmal gab. War das der Antrieb für Sie, es mit Belletristik zu versuchen, weil man hier am ehesten noch auf Nachleben hoffen kann?

Überhaupt nicht. Davon habe ich ja nichts mehr. Ob Leute, die in ihrer zukünftigen Organisation und in ihrer ganzen Vorstellungswelt nichts mehr mit dem zu tun haben werden, was ich kenne, noch mal in mein Buch schauen werden oder nicht, ist mir egal. Goethe hat ja noch seinen gesamten Nachruhm gleich mitorganisiert. Hinten machen wir es uns mit der Vulpius bequem und vorne inszenieren wir den Nachruhm. Das hat die Leute wahrscheinlich zu Lebzeiten aufgebaut, dieser Gedanke, dass sie da irgendwie in ihren Werken weiterleben. Mir fällt da immer der Kalauer von Woody Allen ein: Ich möchte nicht in den Herzen meiner Mitmenschen weiterleben, sondern in meinem Appartment. Geht mir ganz genauso.

Was ist der Schreibantrieb für Sie?

Gehen wir mal davon aus, dass ich nichts anderes kann. Und dass man sich auf dem Felde, wo man etwas kann, erweitert und etwas ausprobiert, finde ich gut. Das ist es aber vermutlich auch noch nicht ganz. Schon als Kind haben mir Erzählen und Lesen Spaß gemacht, also die Möglichkeit, dass der Mensch sich mit seinem Hirn andere Wirklichkeitsmodelle erfinden kann. Von Anfang an haben sich die Menschen Geschichten erzählt, schon in der Höhle, um sich zu unterhalten, um andere Welten zu etablieren, um ihre Vorstellungskraft zu beleben, um andere mit ihrer Vorstellungskraft zu erfreuen, um Erfolg zu haben, Eitelkeit ist natürlich auch wichtig. Das steckt da alles drin.

Und um gewisse Dinge nicht vergessen zu lassen. Spielt das nicht auch eine Rolle?

Also, ich habe nicht zukünftige Generationen im Blick, wenn ich schreibe. Ich schreibe schon für meine Welt, für die Welt, die ich kenne, und über das, was ich kenne. Das ist sicherlich nur ein rührend kleiner Ausschnitt, aber sehr viel mehr hat niemand zur Verfügung, auch wenn er Welten umsegelt, wird er immer nur das sehen können, was er sehen kann. Das ist ja unsere Crux.