Die Energie des Aufbruchs

Sie rasen, sie rennen, sie flüchten, sie wollen weg, sie wollen aufs Schiff, sie träumen von Freiheit und Geld: Der senegalesische Film „Touki Bouki“ von 1973 (heute im Arsenal) ist noch immer Avantgarde des afrikanischen Kinos

Das ist die Kette der Bilder, in die der Film „Touki Bouki“ eine Szene vom Sex an der Klippe auflöst: Anta, die ihre Bluse abstreift, aus Untersicht. Dann, wieder aus Untersicht ins Gegenlicht, der Schnitt auf ihre Hand, die erst das seltsame Metallornament des Motorrads ihres Geliebten Mory krampfhaft umfasst, dann entspannt heruntergleitet zu Mory, den man nicht sieht. Dazwischen das Meer, die Gischt des Wassers.

Man sieht Boote, Felsen, das Tosen des Wassers, dann die Totale: Das Liebespaar liegt entspannt in der Sonne auf der Klippe, das Motorrad daneben. Sie sprechen über das Schiff, das nach Frankreich fährt, in das Land ihrer Sehnsucht.

Anta (Mareme Niang) und Mory (Magaye Niang) leben in Dakar, der Hauptstadt des Senegal. Von ihrem Wunsch, den Senegal hinter sich zu lassen, ins Zentrum der einstigen Kolonialmacht als den Ort einer utopisch imaginierten Freiheit aufzubrechen, erzählt das im Jahr 1973 entstandene Spielfilmdebüt von Djibril Diop Mambéty. Der Sex an der Klippe, mit Blick auf das offene Meer, ist beinahe der einzige Ruhemoment des Films.

Die meiste Zeit ist das Liebespaar in „Touki Bouki“ in Bewegung. Mory auf dem Motorrad mit den Rinderhörnern am Lenker. Seine Freundin Anta zu Fuß auf dem Weg durch Dakar. Sie rasen, sie rennen, sie flüchten, sie wollen weg, sie wollen aufs Schiff, sie träumen von Freiheit und Geld, sie fantasieren sich davon oder auch mal in die Rolle durch die Stadt fahrender Majestäten.

Der Film gibt ihren Fantasien Auslauf, doch nicht ohne Ironie. Davon zeugt auf der Tonspur mehr als einmal der Chanson „Paris, Paris“, gesungen von Josephine Baker, die im Paris der Zwanzigerjahre als Girl aus Missouri das Klischee von der Exotik und Erotik der Fremde verkörperte.

Verflüssigung und Vermischung sind die zentralen Bewegungen von „Touki Bouki“. Scharf sind die Kontraste des Films, der mit einer Hirtenszene eröffnet, dann aber unvermittelt ins Schlachthaus schneidet und in der blutigen Tötung von Rindern ein Symbolbild findet, das der Zuschauer so bald nicht mehr vergisst.

Symbol ist auch das Meer, über das der Weg in die vermeintliche Freiheit führt – man sieht das Wasser, die Boote, aber man sieht nicht den Horizont. Neben dem Wasser jedoch das Blut der Rinder, wieder und wieder. Und von den sterbenden Rindern in Blutlachen führt die Spur zu Morys Motorrad mit seinen Hörnern: eine wild zusammengemischte Bricolage aus Viehzucht und Motorisierung. Am Ende wird sich erweisen, dass das aus Tradition und technologischer Moderne zusammengebastelte Motorrad als Vehikel des Aufbruchs nur sehr bedingt taugt.

Als Zustände der Hybridisierung hat der Postkolonialismustheoretiker Homi Babha Vermischungsprozesse bezeichnet, in denen nicht mehr klar ist, was gilt: das Alte, das Neue oder etwas anderes, dessen Namen und Regeln und Potenziale und Sackgassen man noch nicht kennt. „Touki Bouki“ beschreibt einen solchen Moment unauflösbarer Ambivalenz, in dem die Lage ungewiss ist, aber die Horizonte offen scheinen und die Überwindung der problematischen Gegenwart möglich. Er beschreibt diesen Zustand der Hybridisierung in einer Form, die man mit westlichen Augen sofort als avantgardistisch identifiziert – und wird so selbst zum Hybrid.

Während der zweite große senegalesische Regisseur Ousmane Sembene, dessen Kurzfilm „Borom Sarret“ heute Abend vor „Touki Bouki“ gezeigt wird, auf einen à la Brecht didaktisierten Sozialrealismus setzte, suchte Mambéty die Auseinandersetzung mit den Formen der Kinomoderne der Sechzigerjahre. Josephine Bakers „Paris, Paris“ wird zum ironischen Kommentar auch auf die Form des eigenen Films, der die Herausforderungen der Nouvelle Vague selbstbewusst annimmt. Und der so zum Vorstoß wird in ein Gelände, das er mit den angeeigneten/eigenen Mitteln erst erschließt.

In assoziativen Montagen und Zeitsprüngen, in der dreisten Vermischung von realen und surrealen, blutig ernsten und sehr komischen Momenten sucht und erfindet Djibril Diop Mambéty eine Avantgarde des afrikanischen Kinos. Diese Energie des Aufbruchs, die Lust an der Entdeckung von filmischen Mitteln und Wegen vermittelt sich Szene für Szene und Bild für Bild.

Natürlich ist „Touki Bouki“ von eminenter historischer Bedeutung. Vor allem aber ist der Film bis heute ein einzigartiges, Sinne wie Intellekt stimulierendes Sehvergnügen.

EKKEHARD KNÖRER

„Touki Bouki“, nur heute, 21 Uhr, im Arsenal