Hier spricht Deutschland

Uwe Timm gibt in „Halbschatten“ wagemutig den Toten eine Stimme

Der Berliner Invalidenfriedhof ist ein Ort preußisch-deutscher Geschichte, Militärgeschichte; ein symbolisches Gelände, das noch dazu bis 1989 von der Mauer durchtrennt wurde. Generäle und Soldaten liegen hier begraben, Adelige und Diplomaten; der Jagdflieger Manfred von Richthofen, aber auch NS-Größen wie Reinhard Heydrich, der Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und letztendlich Organisator des Holocaust. Es ist ein Terrain, das wie geschaffen ist für einen Erzähler wie Uwe Timm, der in seinen vorangegangenen Büchern immer wieder gezeigt hat, wie sich Geschichte und Einzelbiografien in literarisch absolut schlüssiger Weise miteinander verbinden lassen.

Nun unternimmt Timm in seinem neuen Roman „Halbschatten“ einen gewagten Versuch: Er lässt die Toten des Invalidenfriedhofes im wahrsten Sinne des Wortes zu Wort kommen (und reichert sie durch fiktive Figuren an). Die Frage, die sich angesichts dieses Ansatzes stellt: Wie bringt man all die disparaten Stimmen zusammen? Wie lässt sich ideologisches und der Ideologie entgegengerichtetes Sprechen, wie lassen sich Täter, Opfer und Mitläufer ganzer Epochen, kurz: wie lässt sich das Deutschland seit der Zeit Friedrichs II. in einem ästhetischen Konstrukt miteinander verbinden, ohne im bloß Dokumentarischen steckenzubleiben?

Timm bedient sich einer simplen Rahmenhandlung. Er schickt seinen Erzähler gemeinsam mit einem Führer auf den Invalidenfriedhof. Der allwissende „Graue“, wie er nur genannt wird, ist eine Art wandelndes Personenlexikon; Stimmenerkenner, Geschichts- und Geschichtenexperte zugleich. Der ursprüngliche Grund für den Friedhofsbesuch ist die Recherche der Biografie von Marga von Etzdorf, einer jungen deutschen Pilotin, die sich 1933 nach mehreren Bruchlandungen in Syrien erschoss. Auch ihr Grab befindet sich auf diesem Friedhof. Marga von Etzdorfs Lebensgeschichte bildet sozusagen das Zentrum von „Halbschatten“, um das herum sich alles anlagert: Selbstbehauptung, Vereinnahmungs- und Abschwächungsversuche, Geplapper, Erinnerung und jede Menge Ideologie.

Ein Gewirr von Stimmen erhebt sich aus dem Boden des Friedhofs, und wie Timm das zu einem Chor ordnet und zusammenfügt, ist von großer Kunstfertigkeit und Eleganz. Der Effekt, der dadurch erzielt wird, liegt auf der Hand: Alles, was an deutscher Geschichte und deren Fortgang erzählt wird, wird durch die Multiperspektive ergänzt, korrigiert oder auch widerlegt. Uwe Timm inszeniert technisch virtuos einen gezielten Zusammenprall von Geisteshaltungen. Das abenteuerliche Leben Marga von Etzdorfs, inklusive Liebesgeschichte mit einem zwielichtigen deutschen Diplomaten in Japan und tragischem Ende, wird zum Vehikel – und es trägt den Roman. Einerseits.

Andererseits hat „Halbschatten“ ein großes Problem: die Sprache. Die Toten können sich gegen das, was der Autor ihnen in den Mund legt, nicht wehren, und der Authentizitätsdruck, den die Sprechrollen zwangsläufig ausüben, führt zu recht kuriosen Auswüchsen. „Mögen Sie eine Pastille? Danke. Emser Pastillen hat schon Bismarck gelutscht, sagt eine spröde Stimme und dann noch etwas. Was hat er gesagt? Man versteht ihn schlecht. Ja, hat auch den Mund voll Erde.“ Das ist nicht komisch, sondern ziemlich albern. Und wenn an anderer Stelle ein Wispern aufkommt, vom Ostwind angefacht, dann ist das die Asche, die sich dort abgelagert hat. An diesem einen Punkt gerät Timms ansonsten erstaunlich pathosresistente Prosa in Kitschnähe. Es wäre ungerecht, einem wagemutigen Unternehmen wie „Halbschatten“ Walter Kempowskis „Echolot“-Projekt entgegenzuhalten, und doch: Von dessen Wucht ist der Stimmensampler Uwe Timm weit entfernt.

CHRISTOPH SCHRÖDER

Uwe Timm: „Halbschatten“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 270 Seiten, 18,95 Euro