„Ein schwerer Klumpen“

Außer der Erhöhung der Deiche fällt Bund und Ländern zum Schutz vor Sturmfluten wenig ein. Das reicht zwar noch für die nächsten drei Generationen, sagt der Bremer Deichhauptmann Michael Schirmer. Dann aber wird es eng

MICHAEL SCHIRMER, 64, Biologe, forscht seit 1995 zum Klimawandel. Seit 2006 Hauptmann des Bremer Deichverbands Rechte Weser.

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Herr Schirmer, wie bereiten Sie sich auf die nächste Sturmflut vor? Und wie sicher sind die norddeutschen Deiche?

Michael Schirmer: Zunächst muss man den Begriff der Sturmflut differenzieren: Sturmflut bedeutet, dass durch Windeinwirkung der Wasserstand an der Küste und in den Flussmündungen höher ist, als er es durch die normalen Gezeiten wäre. Das ist nichts Neues oder Dramatisches. Es gibt regelmäßig leichte Sturmfluten, die bis zu Meter höher auflaufen. Mittelschwere Sturmfluten steigen noch einen Meter höher; auch das passiert jeden Winter ein-, zweimal. Dann gibt es noch die sehr schweren Sturmfluten, die mehr als dreieinhalb Meter höher auflaufen als normal. Sie ereignen sich alle zwei oder drei Jahre. Aber was die deutsche Nordseeküste betrifft, mache ich mir für die nächsten zwei, drei Generationen keine Sorgen: Die Deiche sind so hoch, dass sie im Durchschnitt auch noch Sturmfluten aushalten, mit denen man nur alle 2.000 Jahre rechnen muss. Und die Flussdeiche sind auf ein 100-jähriges Risiko ausgerichtet.

Wie hoch würde eine Sturmflut steigen in, sagen wir: in Bremen, wo Sie ja das rechte Weserufer überwachen?

3,5 Meter höher als das normale Tidehochwasser. Bei einem mittleren Tidehochwasser von 2,5 Metern in Bremen wären das insgesamt sechs Meter. Unsere Deiche sind derzeit sieben Meter hoch, so dass eigentlich kein Wasser oben drüberlaufen dürfte.

Was aber ein Problem bedeuten würde?

Bei einem modernen Deich nicht. Denn der ist auch auf der Rückseite so flach, dass das überlaufende Wasser den Deich nicht angreifen sollte.

Sind alle hiesigen Deiche in diesem Sinne modern?

Wir haben einen modernen Zustand, aber es gibt für Bremen und Niedersachsen eine Neuberechnung, aufgrund derer wir die Deiche in den nächsten Jahren um rund einen Meter erhöhen wollen. Bei der Gelegenheit werden wir alle Deiche nochmals modernisieren, indem wir sie nach vorn und hinten möglichst flach ausziehen.

Lässt sich am Deich der Klimawandel ablesen?

Wir stellen tatsächlich Veränderungen fest, was die Funktion der Deiche betrifft – sogar hier im Binnenland. Konkret treten kleine und mittlere Sturmfluten häufiger auf. In den 80er Jahren wurde zum Beispiel das Bremer Lesum-Sperrwerk 30 Mal jährlich geschlossen – immer, wenn der Wasserstand 2,70 Meter überschritt. Heutzutage müssen wir es 150 Mal jährlich schließen, um die Flussdeiche zu schützen.

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Fluss- und einem Küstendeich?

Klassische Flussdeiche – an Elbe, Rhein und mittlerer Weser etwa – müssen vor allem Durchfeuchtung aushalten, weil ein Flusshochwasser unter Umständen wochenlang steht. An den meisten Flüssen hat man die Deiche so hoch gebaut, dass sie einer Überschwemmung standhalten, wie sie alle 100 Jahre vorkommt. Seedeiche dagegen sind deutlich flacher, weil sie den Wellenauflauf mit auffangen müssen. Durchfeuchtung ist hier kein Problem: Eine normale Sturmflut hält höchstens 24 Stunden an. Das heißt: Die Deiche müssen flach sein und eine stabile Oberfläche haben, um die Wellenenergie aufzufangen. Auch die Rückseite muss flach sein: Wenn Wasser drüberläuft, darf es nicht den Deich von hinten aushöhlen. Außerdem müssen unsere Seedeiche wegen des Hinterlandes ein höheres Risiko abfangen. Sie werden so gebaut, dass sie eine Sturmflut aushalten, wie sie alle 2.000 Jahre vorkommt. Hinter einem Seedeich ist man deshalb um ein Vielfaches sicherer als hinter einem Flussdeich.

Wie viele Menschen sind an der Nordseeküste sturmflutgefährdet?

Ungefähr 3,5 Millionen. Diese Zahl bezieht sich auf Küstenbewohner und dahinter liegende Gebiete bis zu einer Geländehöhe von fünf Metern. Hiervon wären auch Bremerhaven sowie große Teile Bremens und Hamburgs betroffen.

Stimmt es, dass die norddeutschen Küstenlinien sinken?

Ja. Unsere Küste – insbesondere der niedersächsische Teil – liegt auf einer Erdscholle, die mit Skandinavien verbunden ist. Während der letzten Eiszeit lag sie unter kilometerdicken Gletschern, die Skandinavien nach unten drückten. Mit dem Ende de Eiszeit taucht Skandinavien – das obere Ende der Erdscholle – langsam wieder auf; am Bottnischen Meerbusen hebt sich die Küste um einen Zentimeter jährlich. Wir sitzen unglücklicherweise am anderen Ende dieser Scholle, das sich entsprechend senkt – um zehn Zentimeter in 100 Jahren. Dies hat mit dem Klimawandel nichts zu tun, verstärkt aber dessen Effekt.

Der Deichhauptmann ist Verbandsvorsteher des Deichverbandes, der wiederum die Interessen der Grundstückseigentümer vertritt. Diese wählen 31 Abgeordnete, die wiederum fünf Vorstandsmitglieder, die den Deichhauptmann für fünf Jahre bestimmen. Er ist ehrenamtlich tätig, steht den 50 Angestellten des Deichverbandes vor und ist verantwortlich für die Instandhaltung von Deichen, Schleusen, Sperrwerken und Pumpen.  TAZ

Ist das ständige Erhöhen der Deiche ein Allheilmittel – oder gibt es eine Grenze?

Langfristig wird es Grenzen geben. Ein Deich ist ein riesiger, schwerer Erdbrocken. Den kann man irgendwann nicht mehr vergrößern, weil er für den Untergrund zu schwer wird. Langfristig wird man also im niedersächsischen Hinterland eine zweite, vielleicht dritte Deichlinie ziehen müssen, so wie in Schleswig-Holstein.

Geraten Ölpipelines oder Windkraftanlagen dem Deichbau in die Quere?

Was die Pipelines betrifft, sind bis jetzt alle Projekte so abgewickelt worden, dass der Küstenschutz nicht beeinträchtigt war. Das Wattenmeer selbst hat für den Küstenschutz eine Funktion als Wellenbrecher. Allerdings ist jedes Rohr, das quer durch den Deich verläuft, eine Schwachstelle. Hier müssen dicke Beton-Einbauten gefertigt werden, um sicherzustellen, dass bei einem Hyper-Orkan keine Rohre herumfliegen und den Deich zerfetzen. Hinzu kommen jetzt riesige Stromleitungen der Windkraftanlagen. Auch die müssen mit großem Aufwand gesichert werden. Eine ideale Lösung gibt es nicht.

Können wir irgendetwas tun, außer bloß zu reagieren?

Ja – versuchen, durch effektiven Klimaschutz Zeit zu gewinnen. Auch sollten wir aufhören, die Flüsse zu vertiefen: Jede Ausbaggerung wirft uns, was den Anstieg des Meeresspiegels und die Stärke der Sturmfluten betrifft, um gute zehn Jahre nach vorn.

Michael Schirmer hält am Sonntag beim Kampnagel-Sommerfestival in Hamburg eine Experten-Tischrede über Sturmflutschutz und Klimawandel