lidokino (5)
: Der Sturm flutet die Welt

Bei Miyazaki bleibt nichts, wie es war: Nichts ist statisch, alles hat das Potenzial zu Metamorphose, Bewegung und Aufbruch

Wenn man am Strand spazieren geht und den Blick dabei nach unten richtet, sieht man im flachen Wasser manchmal kleine, sandfarbene Fische, gewundene Gehäuse von Meeresschnecken oder halb geöffnete Miesmuscheln. Das Fleisch wurde fortgespült, an den schwarzen Schalen lagert sich Kalk ab, Algen wachsen darauf. Je genauer man sich diese Fundstücke anschaut, umso besser vermitteln sie eine Ahnung von der Fülle der Formen, die das Meer birgt.

Die Welt unter Wasser ist eine eigene Welt; sie ist, wenn man so will, aus sich selbst heraus fantasiebegabt, und so nimmt es nicht wunder, dass der Animationsfilm, das fantasiebegabteste aller Filmgenres, sie gern zum Schauplatz nimmt. So viele Gestalten tummeln sich im Meer, dass es die Vorstellungskraft jedes Zeichentrickregisseurs beflügeln muss. Hayao Miyazakis Wettbewerbsbeitrag „Gake no Ue no Ponyo“ („Ponyo on the Cliff by the Sea“) setzt diesen Reichtum auf beeindruckende Weise in Szene.

Miyazaki ist bekannt für die Detailfreude, für die Liebe zu den Figuren und für die Schönheit, die er seinen Filmen – zum Beispiel „Prinzessin Mononoke“, „Spirited Away“ oder „Howl’s Moving Castle“ – schenkt. „Ponyo on the Cliff by the Sea“ schließt schon mit der ersten Sequenz an diese Virtuosität an. Der Film taucht in einen Unterwasserkosmos ein, die Bewegungen sind gleitend und zugleich dynamisch, die Farben und Konturen klar, im Auf und Ab der Wellen begegnet man zahllosen bizarr geformten Tieren und Pflanzen, Krebsen, Putzerfischen, Moränen, Walen, Wasserschlangen, Kraken, Korallen. Man wird Zuschauer eines Quallenballetts und hält irgendwann verdutzt inne: Ein Schwarm Goldfische schwimmt durchs Bild, die Tierchen haben menschliche Gesichter. Eines löst sich aus der Menge: Es ist die Protagonistin Ponyo.

Ponyo ist das Bindeglied zwischen der Sphäre der Menschen und der des Wassers. Durch eine Kette von Zufällen landet sie bei dem Jungen Sosuke, und fortan will sie so werden wie er: Beine haben, Arme haben, Zähne haben, Schinkenwurst essen. Tatsächlich brechen, kaum äußert sie den Wunsch, Hühnerfüße aus ihrem runden Fischbauch hervor. Die wiederum verwandeln sich bald in Menschenfüße, und sprechen kann Ponyo schon, als sie noch ein Goldfisch ist. Gäbe es nicht den Zauberer Fujimoto, der sie zurück ins Meer holen will, sie könnte ein Kind wie jedes andere sein. Doch während Ponyo, der Fisch, zum Menschen wird, verwandelt sich das Küstenstädtchen in Meer. Fujimoto schickt seine Fische aus; die formen sich zu dunklen, wütenden Wellen und bringen so die Wasseroberfläche zum Brodeln. Der Sturm flutet die Welt der Menschen; graue, prähistorisch anmutende Fische schwimmen nun über die Straßen, über die eben noch Sosukes Mutter mit ihrem Kleinwagen raste.

Bei Miyazaki bleibt nichts, wie es war. Nichts ist statisch, alles hat das Potenzial zur Metamorphose, zur Bewegung und zum Aufbruch. Das macht „Ponyo on the Cliff by the Sea“ so lebendig, reich und dynamisch; kein Wunder, dass der Film bei der Pressevorführung am Sonntagmorgen begeisterten Applaus auslöste.

Die Mostra bietet in diesem Jahr wenig Raum für Mittelgutes. Der Reichtum, die Fülle eines Films – oder, im Gegenteil, seine Armut – treten besonders klar zutage. Wie berückend ist Miyazakis Animationskosmos, wie berückend auch ist Claire Denis’ „35 Rhums“, ein außer Konkurrenz präsentierter Film, der beobachtet, wie sich das Verhältnis eines Vaters zu seiner Tochter verändert, sobald diese erwachsen wird. Welch eine Fülle an Nuancen, wie viel Sensibilität und Gespür für Zwischentöne und Uneindeutiges, und wie armselig dagegen gerät etwa Guillermo Arriagas Wettbewerbsbeitrag „The Burning Plain“. Ein Mosaikfilm, der allerlei traumatisierte Figuren antreten lässt: eine Brustamputierte, eine Muttermörderin … Dabei legt der Film die psychologische Raffinesse einer Telenovela an den Tag. „Geht zum Therapeuten“, will man diesen armen, an sich selbst Leidenden zurufen. „Dort seid ihr besser aufgehoben als bei eurem Regisseur und Drehbuchautor.“

CRISTINA NORD