Gesamtkunstwerk Grass

Ein Literaturkritiker von Rang muss Günter Grass erlebt haben. Am Sonntag stellte der Literaturnobelpreisträger seinen Familienroman „Die Box“ in Hamburg vor. Ein Livebericht aus dem Thalia-Theater unter Würdigung der neuen Schrift

Die Geschichte einer ausufernden Patchworkfamilie wird in der „Box“ nachgezeichnet, der von Grass selbst

VON DIRK KNIPPHALS

Wie misst man Aufregung? Dass sie mal wieder sehr groß sei, gehört zum Basiskonsens an diesem Abend im Hamburger Thalia-Theater.

Gewichtige Männer in schwarzen Anzügen sind da und auch junge Leute, die die Jeans zu Hause gelassen und sich festlich angezogen haben. Die überregionale Presse ist gekommen. Kamerateams filmen. Eine Dame betritt die Bühne und lässt das Key Word „Nobelpreisträger“ fallen. Der Publizist Hajo Kesting ist der Moderator des Abends. Er greift während seiner Einführung in die ganz große Zitatenkiste. Goethe, Thomas Mann, Nietzsche. Außerdem erwähnt er, dass die Literaturkritik mal wieder total zerstritten sei. Von „eines der schlechtesten Bücher von Günter Grass“ bis hin zum besten Grass-Buch seit Langem gehe die Spannbreite.

Und auch man selbst lässt sich für einen Moment von Anspannung einfangen und beobachtet den Matador mit gesteigerter Aufmerksamkeit – schließlich, man weiß ja nie, vielleicht wird die jetzt gestartete Lesetour sein letzter großer Auftritt. Und es ist auch tatsächlich interessant, ihn zu beobachten. Seinen britisch aussehenden Anzug jenseits aller Moden. Seine leicht abgestoßenen Schuhe. Seine großen Altmännerohren. Seine erstaunlich feinen Hände. Irgendwann registriert man, dass so detailversessen Kinder ihre Eltern beobachten. Das passt zum Thema des Abends, schließlich lässt Günter Grass in seinem neuen, autobiografischen Buch „Die Box“ seine Kinder als Erzähler auftreten.

Gleichzeitig wirkt die Veranstaltung aber auch ziemlich routiniert. Großen Skandal so wie das Vorgängerbuch mit seiner SS-Episode wird „Die Box“ kaum machen. Das Ganze hat also etwas von Grass-Business as usual.

Dreimal allerdings geht so etwas wie ein Ruck durch den Saal. Das ist jedes Mal der Fall, wenn Grass zu lesen beginnt. Einführung, Lesung, Gespräch, Lesung, Gespräch, Lesung, Applaus geht die Dramaturgie der Veranstaltung; und bei jeder Lese-Einlage wirkt Grass wie verjüngt. Eben hatte er noch windschief und 80-jährig im Sessel gesessen, sobald er aber hinter dem Lesepult steht, wirken nicht nur seine Sätze höchst lebendig – er auch. Mit schnellen Bewegungen seiner Hand unterstreicht er die Betonungen, der ganze Oberkörper arbeitet bei den Phrasierungen mit. Mithilfe des Textes scheint dieser Autor in die Vitalität springen zu können.

Und noch etwas fällt aus dem Ablauf heraus. Bald entrollen einige Männer Plakate: „ ‚www.ungebeten.de‘ “ „grüßt die moralische Instanz Günter Grass“. „Nebelkerzenprosa“, rufen sie. So wie Martin Walser nach seiner Friedenspreisrede der Schlussstrichvorwurf könnte Grass nun nach seiner verspäteten SS-Einlassung der Verschleierungsvorwurf begleiten. Die Recherche ergibt später, dass es sich bei den Störern um eine obskure „konservativ-subversive“ Gruppe mit neurechts-aktionistischen Gedankengut handelt. Grass blieb gelassen; die Männer sollten doch erst einmal zuhören, sie könnten ja hinterher buhen. Zwei von ihnen taten das auch, aber verhalten. So blieb der Protest Episode in der Ablaufroutine. Was der Abend zeigte, war, dass es ein Text manchmal nicht leicht hat, wenn er von einem Autor geschrieben wurde, der längst schon zur Literaturgeschichte gehört. Im Grunde will man, ob Grass-Fan oder Grass-Gegner, seine Vorurteile nur noch überprüfen. Dabei gäbe es gerade über dieses neue Buch einiges zu bereden, was man mit diesem Autor noch nicht in Verbindung gebracht hat. Die Geschichte einer ausufernden Patchworkfamilie wird in der „Box“ nachgezeichnet, der von Grass selbst. Neun Erzählerstimmen gibt es, acht Stimmen von längst selbst erwachsen geworden Söhnen und Töchtern, dazu gelegentlich die kommentierende Stimme ihres Vaters. Auf der Thalia-Veranstaltung lässt Grass keinen Zweifel daran, dass das Erzählte autobiografischen Hintergrund besitzt, er sich die Erzählsituation – die Kinder treffen sich in wechselnden Konstellationen, um sich über ihre Familie klar zu werden – aber selbst ausgedacht hat. Die dritte Fassung des Buchs, sagt Grass, habe er dann seinen realen Kindern zu lesen gegeben und viele ihrer Änderungswünsche berücksichtigt. Insgesamt geht es in der „Box“ ein wenig im Schweinsgalopp um Kinder, Bücher, Häuser und die vier in Grass’ Leben wichtigen Frauen. Außerdem durchzieht noch eine Marie das Buch; eine nach der 1997 verstorbenen Grass-Leibfotografin Maria Rama gezeichnete Figur, deren Bilder Wünsche, Ahnungen und auch die Vergangenheit sichtbar machen können – ein Grass-typisches Märchenmotiv.

Liest man das alles in dem Wissen, dass man hinterher darüber schreiben wird, streicht man sich zunächst unwillkürlich vor allem die Stellen an, die das Zentralgestirn dieser Familie betreffen. Immer, so erfährt man, hatte Grass ein Buch „in der Mache“, dann machte er damit „viel Knete“, und nach jedem großem Roman kaufte er sich ein neues Haus, erst eins in Berlin-Friedenau, dann diverse Häuser auf dem Land in Norddeutschland. So in etwa geht der Rhythmus dieses Lebens, Grass bemüht sich darum, ihn mit Selbstironie und Abstand zu sich selbst aufzuschreiben. Nicht immer gelingt das. Vor allem die Erzählkonstruktion erweist sich oft als ziemlich narzisstisch. Ein Vater, der seine Kinder sagen lässt, dass er interessant erzählen kann – hm!

Allmählich realisiert man aber beim Lesen: Die anderen Geschichten sind sowieso viel interessanter oder könnten es wenigstens sein. Das Buch ist dann gut, wenn es der Überfigur Grass entkommt; in Andeutungen, einigen Szenen, Nebenbemerkungen und Kurzporträts gelingt das immer wieder. Dann ist in ihm etwas enthalten von den Taktiken von Kindern, die sich mit einem berühmten Vater arrangieren mussten, der keine Zeit für sie hatte; von der Sehnsucht nach heiler Familie, die Halbgeschwister entwickeln können; von dem Schmerz von Trennungen; von der Hilflosigkeit eines Vaters, der seinen Kindern erklären muss, warum er nicht mehr mit ihrer Mutter zusammenlebt; auch von der Fröhlichkeit eines glückenden Familienlebens; und auch von der wirklichkeitssetzenden Wucht einer solchen bunten Horde.

In den allerbesten Momenten ist das viel mehr als Anekdotenerzählerei aus der Zeit, als man Familien noch nicht zu planen pflegte. Es ist auch mehr, als der Familie Grass gehört. Es sind Hintertüren und Seitenblicke in die wilde Beziehungsgeschichte der Bundesrepublik. Allerdings muss man sich da als Leser vieles selbst zusammenreimen, man muss buddeln, von Andeutungen ausgehend assoziieren und gleichsam detektivisch lesen. Zu den Leitmotiven des Buchs gehört, dass in Günter Grass noch vieles „ticke“, was „abgearbeitet“ werden muss. Dass seine Erfahrungen als Familienvater zu dem Abzuarbeitenden gehört haben, weiß man nun. Freilich bedeutet das keineswegs, dass Grass diese Erfahrungen auch sorgfältig durchgearbeitet hat. Grass ist eben Antifreudianer. An einer Stelle macht er sich hübsch über die Zumutung lustig, seinen Mutterkomplex therapeutisch angehen zu sollen: „Und auf meinem Grabstein wird gemeißelt stehen: ‚Hier liegt unbehandelt mit seinem Mutterkomplex‘.“ Was ja auch seine Privatsache ist. Aber es hat eben Auswirkungen auf sein Schreiben: Die verborgenen Mechanismen, die sein Leben bestimmen, sprechbar zu machen, dafür ist Grass nicht der Autor. Er verbohrt sich nicht in die Abgründe des Alltags und der Normalität, sondern erschafft sich lieber eine collagierte Welt aus eigenem Recht mit Fischen, Schnecken, Märchen und sonstigen starken Details. Und auch in diesem Buch, das die Familienbande behandelt, muss er unangefochten im Mittelpunkt stehen.

Auch nach der „Box“ kann man also Lust haben, sich in die Schlange der Kritiker einzureihen und sich weiter an Grass zu reiben. Es gibt aber auch manche Stellen zu bergen, die einen für die Anstrengungen entschädigen können, an manchen Schwächen vorbeischauen zu müssen. Einmal im Thalia-Theater machte er sich sogar selbst lustig über die von ihm gern gespielte Patriarchenrolle. Und gerade in diesem Moment rieb er sich seine erstaunlich feinen Hände.

Günter Grass: „Die Box“. Steidl, Göttingen 2008, 218 Seiten, 18 €