Huxley is watching you

Selbst die Zukunft kann manchmal ganz schön alt aussehen: Der Science-Fiction-Abend „Das blaue Meer“ hatte im Ballhaus Ost Premiere. Immerhin weiß man jetzt, wozu Bluetooth alles gut ist

VON ESTHER SLEVOGT

Ein wenig enttäuscht ist man schon, dass die Welt in 21.000 Jahren immer noch so aussehen soll, wie man sich die Zukunft im Theater am Ende 20. Jahrhundert schon vorgestellt hat: nämlich mit Gerümpel verstellt und von verstörten Gestalten bevölkert – ein Waste Land, wo der Aufenthalt so ungesund ist, dass es große Blasen um Kopf und Körper braucht, um das Schlimmste zu verhindern. Auch sonst hat sich hier wenig getan, was die Vorstellung von der Zukunft betrifft. Was Orwell und Huxley schon vorwegnahmen, ist auch bei Cristin König Gewissheit, die uns im Ballhaus Ost in ihrem Science-Fiction-Abend „Das blaue Meer“ ins Jahr 22.976 versetzt.

Die Gehirne aller Menschen sind durch eine Art Bluetooth-System an einen Zentralcomputer angeschlossen, der Wünsche lesen kann und sie wahlweise erfüllen oder ausradieren kann. Wer nicht spurt, landet in irgendwelchen Zonen, aus denen es kein Entrinnen gibt. Eine Art Wissenschaftler spricht leises, böses Zeug gleich von drei Leinwänden herab, ein Vertreter jenes unheimlichen Imperiums, das die Menschen nun restlos kontrolliert. Auch eine laszive Raucherin (Cristin König), die nervös an ihrem langen Blondhaar zwirbelt und angeblich trotz ihrer 84 Jahre noch Kinder bekommen kann, erscheint hier in finsterer Mission. Und ein nicht näher definierbarer Cowboy, der am Ende zum Retter wird. Auf der Bühne windet sich eine Frau in einem Plastik-Kokon, die, wie man ihrem hysterisierten Redeschwall entnehmen kann, sich bereits aus der Gemeinschaft aussortiert, in der Verbannung befindet.

Auch die Zuschauer haben wenig zu lachen. Die Bestuhlung im Ballhaus Ost ist entfernt und das Publikum hinter weiß-rotes Baustellenband gepfercht. Nur für etwa die Hälfte gibt es Stühle. Der Rest quetscht sich auf den Stufen links und rechts, mitunter bei äußerst eingeschränkter Sicht. Es handelt sich um eine Art Multimedia-Performance. Auf Leinwänden rundum erscheinen Menschen als Projektionen, während in der Mitte des Raums leibhaftige Schauspieler agieren.

Anfangs erscheint hier ein Mädchen (Hannah Beer), das sich mit glockenreiner Kinderstimme als „giga-intelligent“ und beteiligt an der Entwicklung der Software vorstellt, welche die Zentralüberwachung der Gehirne erst möglich gemacht hat. Ihr Wissen hat sie in einem Buch festgehalten, das auf mysteriösem Weg über Partisanen in den Besitz der Frau im Kokon gelangt ist, die sich Carla nennt und von Anne Tismer gespielt wird. Irgendwie versuchen die Mächtigen, die stets nur als Leinwandprojektionen Kontakt mit der Frau und dem Kind in der Verbannungszone halten, in den Besitz dieses Buchs zu gelangen. Umsonst allerdings, wie es scheint. Denn so ganz wird man aus der Geschichte nicht schlau, die in ihrem Verlauf wirr und wirrer wirkt. Man erfährt, dass unser Zeitalter einmal als das „depressive“ in den Geschichtsbüchern stehen wird. Denn als die Menschen ihr Glück noch selbst bestimmen konnten, hätten sie sich oft durch Selbstmord entzogen.

Andererseits scheint es mit dem gelenkten Glück auch nicht zum Besten zu stehen und auch im Jahr 22.976 das blaue Meer immer noch Sehnsuchtsbild für ein freies Leben zu sein. Denn am Ende erschießt die verbannte Carla alias Anne Tismer den manipulativen Vertreter des Imperiums (Robert Hunger-Bühler), der auf seiner Leinwand tödlich getroffen zusammensackt, um dann mit dem Mädchen und dem Cowboy tanzend auf einem Leinwandmeer zu entschwinden. Vielleicht ist sie aber auch in ihrer Verbannungszone verstorben und fantasiert sich im Todeskampf aufs Meer.

Im Ballhaus Ost, dieser experimentellen Spielwiese für staatstheatermüde Schauspielprofis, geben nun also Anne Tismer und Cristin König ihre Version der schönen neuen Welt zum Besten, aber leider bietet sie auch keine neuen Erkenntnisse über unsere Gegenwart oder Zukunft. Außer, dass sie vielleicht die Hoffnung weckt, Tismer und König bald wieder mal auf großen Bühne in einem echten Theaterstück zu sehen.

Weitere Vorstellungen 5., 12. & 13. September