In der Gegenbilder-Falle

Die Literatur sucht noch: Alle Versuche, 9/11 in Romanen zu erfassen, scheiterten jedenfalls bislang. Dafür scheint sich der Comic zum funktionierenden Medium traumatischen Erinnerns zu entwickeln

Noch nicht mal Don DeLillo mochte an die Körper im Innern der Türme denken Man braucht in der medialisierten Welt immer noch ein paar Bilder mehr

VON DANA BÖNISCH

Die Komposition ist fast perfekt. Ein Mann im Anzug fällt oder fliegt, kopfüber, die Arme eng am Körper. Seine Silhouette wird flankiert von exakten, parallelen Linien – den Fensterreihen des World Trade Centers. Es wäre ein Paradebeispiel für Vertikalität, wäre nicht das rechte Bein angewinkelt wie bei einer Ballettpose.

Der „Falling Man“, wie er im ersten Benennungsrausch getauft wurde, gehört zu jenem Fotokatalog der kollektiven Erinnerung, über den in den vergangenen sieben Jahren viel und laut nachgedacht wurde – gerne mit den Slogans der „Macht der Bilder“ oder der „Ikonografie des Terrors“. Der Anschlag, den man unter der Chiffre „9/11“ kennt, hatte für kurze Zeit die große Welterzählung samt ihren medialen Mechanismen gekidnappt – und mit den brennenden Türmen ikonenhafte Bilder geliefert, die, so wurde kaum ein Kommentator müde zu betonen, Hollywood schon immer fantasiert hatte.

Man bemühte sich im Nachhall des Ereignisses, auf große Bilder zumindest mittelgroße Worte folgen zu lassen. Doch Ulrich Wickerts schockstarre Sprachlosigkeit, die nach einer Weile von eingespielten Fernsehverfahren – hustende Korrespondenten im Splitscreen etc. – abgelöst wurden, setzte sich auf anderer Ebene gleichsam fort. Im Grunde hatte, auch wenn viel geredet wurde, kaum jemand etwas zu sagen. V.S. Naipaul verkündete das Ende des Romans – vielleicht, um selber keinen schreiben zu müssen. Don DeLillo hielt dagegen, dass die Literatur eine letzte, eine subversive Form der Geschichtsschreibung sei. Er machte sich an die Arbeit – und scheiterte. Genauso wie alle anderen Projekte, die bislang den „11. September“ literarisch zu erfassen suchten. Doch interessant sind die Ergebnisse allemal; etwa dann, wenn man sie als eine Versuchsreihe über das Verhältnis von (literarischem) Text und (Medien-)Bild begreift. Denn gegen die übermächtigen Medienbilder sind die literarischen Versuche gesetzt.

Es ist dabei der namenlose „Falling Man“, nach dem DeLillo seinen Roman betitelt, der schließlich zum Lieblingsmotiv der Literatur wird. Vor allem Lyrik und Kurzprosa setzen ihn ein, um den Türmen, die im Fernsehen in Endlosschleife zusammenstürzen, eine Art Antiikone entgegenzustellen. Fallende Hochhäuser: Dieses Medienbild folgt dem Hollywood-Narrativ der brennenden Türme, jenen übergroßen Bildern, in denen Menschen auf eine unheimliche Art und Weise abwesend sind. An dem einzelnen fallenden Körper aber bricht sich dieses Narrativ; es braucht, so die implizite Annahme der Autoren, Literatur, um ihm gerecht zu werden.

So schwingt sich die Literatur implizit gerne zum Chefkonservierer der verdrängten und verbotenen Bilder auf – die Aufnahmen der Fallenden wurden zunächst verfremdet, dann gar nicht mehr gesendet oder gedruckt. Letztlich huldigt die Literatur jedoch nur einer alten Sache: der Ästhetisierung des Todes, der Schönheit im Angesicht der Katastrophe. Die Fotografie hält die Zeit an, und deshalb wird der Fallende zum erstarrten Fliegenden – ein utopisches Gegenbild zu den geschmolzenen und verstümmelten Körpern irgendwo im Innern der Türme, die niemand sehen und an die niemand denken möchte. Noch nicht einmal Don DeLillo, sonst Superchronist einer anderen, uneindeutigen US-amerikanischen Geschichte.

Die Literatur liebt das Bild möglicherweise auch deshalb, weil sie gewissermaßen ihresgleichen, nämlich einen mythischen Stoff erkennt: Der „Falling Man“ ist ein abstürzender Ikarus im Businessanzug. Die rauchenden Türme erinnern ihrerseits an das biblische Großbauprojekt Babel – und vor allem an sein Scheitern. So verschmelzen beide Motive zu einer Haudraufmetapher der Hybris, die durch Texte und Filme geistert.

Die einzigen Autoren, die sich indes tatsächlich der Realität zerstörter Körper annahmen, waren ausgerechnet die Society-affinen Autoren Frédéric Beigbeder („Windows on the world“) und Jay McInerney („The Good Life“), Mitglied des „Bret Packs“ um den Schriftsteller Bret Easton Ellis. Was ihre Bücher nicht besser macht: Unmittelbar in der romantischen Folgezeit der Kerzenmeere und „Nichts wird mehr so sein wie es war“-Rhetorik entstanden, spiegeln sie das Trauma letztlich doch bloß in den Wirren zwischenmenschlicher Beziehungen. Und sogar DeLillo, der in seinen früheren Werken (vor allem „Mao II“) unaufhörlich über das Verhältnis von Terror und Kunst reflektierte, wartet mit exakt demselben langweiligen, traumatisierten Upperclass-Figurenpersonal auf.

Warum also dauert das Wickert’sche Schweigen an? Und wie lange wird es noch andauern? Es mag sein, dass viele Autoren in die Gegenbilder-Falle getappt sind. Im Versuch, sich von den großen Mediennarrativen freizumachen, auf der Suche nach den „anderen“ Bildern, nach der elliptischen Sprache des Traumas, haben sie sich zuweilen im Alltagskitsch verfangen. Außerdem sind sie zum Teil immer noch den Dichotomien einer Sprache verhaftet, die im unmittelbaren Nachhall des Ereignisses klare Fronten zwischen Tätern und Opfern brauchte: Wenn die Terroristen überhaupt vorkommen, wie bei DeLillo, erstarrt die Erzählung in Klischees, gleitet die Sprache in einen dümmlichen Koran-Duktus ab. Interessant wird es vor allem, wenn man sich vergleichsweise die eingehende Beschäftigung der Deutschen mit „ihren“ Terroristen anschaut, die aktuell im Eichinger-Kino angekommen ist. Womöglich hat Don DeLillo recht, wenn er das der Tatsache zuschreibt, dass die RAF-Figuren so angenehm „ungläubig, westlich und weiß“ sind – und deshalb quasi als systemeigene Täter/Helden behandelt werden können. Mit den Tätern vom 11. September 2001 kann das nicht gelingen.

Vielleicht braucht es auch einfach Zeit, Narrative jenseits der medialen Schablonen zu entwickeln. Wie, genau besehen, sollte es nach 5 oder 10 oder auch 40 Jahren möglich sein, eine alternative, „letzte“ Fassung der Geschichtsschreibung vorzulegen, wie es sich Don DeLillo in einem vor „9/11“ geschriebenen Essay einmal vorgenommen hatte? Zumal diese angeblich letzte Fassung natürlich gar nicht in einer finalen Form existieren kann. Der Prozess der Um- und Neuschreibung, der De- und Rekonstruktion hat gerade erst begonnen – zu früh für Abgesänge.

Die neueste Veröffentlichung zum Thema ist ein Comic, der die Ergebnisse der offiziellen Untersuchungskommission zu den Abläufen am 11. September bebildert. „The 9/11 report“ von Sid Jacobson und Ernie Colón zeichnet minutiös nach, was vor, am und nach dem 11. September geschah – bis auf jene Vorgänge in den obersten Stockwerken der Türme, von denen Frédéric Beigbeder schrieb, dass nur die Fiktion sie dokumentieren könne. (In seinem eigenen Roman füllte er diese Leerstelle kurzerhand durch apokalyptische Sexszenen in Ralph Lauren aus.)

Es liegt nahe, Jacobsons Comic-Report im Zusammenhang mit einer Entwicklung zum Grafischen zu sehen, die auch das Kino betrifft: In „Waltz with Bashir“ oder „Persepolis“ sind es die gezeichneten Bilder, die sich verschiedener Kollektivtraumata und ihrer Verschleppungen in den Alltag annehmen. Die Graphic Novels „Blutspuren“ (Rutu Modan) und „Der Fotograf“ (Didier Lefèvre) erzählen auf ähnliche Weise vom Leben in Tel Aviv – hier ist die Angst kaum wahrnehmbares Hintergrundflimmern – oder dem besetzten Afghanistan der Achtziger. Es scheint also fast, klänge das nicht eine Nummer zu groß, als entwickle sich der Comic zu dem Medium traumatischen Erinnerns und schwieriger politischer Wirklichkeit, das die Literatur Probleme hat zu sein. Vielleicht hat der Comic deshalb Vorteile, weil die Zeichnungen den inflationären Fernsehbildern aus den Krisengebieten dieser Welt, deren Ikonografie uns viel zu vertraut ist, schließlich etwas entgegenzusetzen haben?

Bei Jacobson und Colón fallen die Türme mit einem „R-r-r-rrrrrrrumble“. Das ist schlau, weil es die leicht dogmatische Ästhetik der Graphic Novel, an die man sich schon fast gewöhnt hatte, durch klassische Comic-Randale bricht – und die Ikonen des 11. September in jene Actionszenerie rückversetzt, aus der sie kamen. Der „9/11 Report“ kratzt dabei allerdings kein bisschen an der Oberfläche der Bilder. Anders als Art Spiegelmans „In the shadow of no towers“, dessen düstere Motive auf ganz verschiedenen Ebenen operieren und mit dem Topos der Abwesenheit spielen, kopiert er bloß das altbekannte Fernsehnarrativ in die Welt der Panels; inklusive eines ganzen Kapitels, das die „globalen Lösungsvorschläge“ einer neokonservativen Überwachungspolitik abfeiert.

Die Terroristen werden dabei allerdings gar nicht so stark stereotypisiert, wie es auf den ersten Blick scheint. Zwar wirft die eine oder andere Adlernase einen bedrohlichen Schatten. Bizarrerweise läuft aber neben rassistischen Klischees eine Individualisierung ab, die am Ende das Gegenteil bewirkt. Das Passfoto von Mohammed Atta steht nicht mehr allein für das unheimliche Andere; die Terroristen bekommen ein Gesicht. Bushs Hände sind genauso übergroß-klauenhaft wie die von Bin Laden, wenn sie sich auf die Landkarten legen, und die Brillengläser der CIA-Agenten reflektieren unheimlich. Man könnte meinen, dass es diese Überzeichnungen sind, die den Comic ausmachen – wären es nicht dieselben, die man aus der journalistischen Berichterstattung wiedererkennt.

Es wäre sicherlich zu hoch gegriffen, gezeichnete Erzählungen als Überwinder einer literarischen Schockstarre zu werten. Aber vielleicht braucht man in einer durch und durch medialisierten Welt am Ende doch immer noch ein paar Bilder mehr.