„Viel Wissen ist verloren gegangen“

Dem will das Nordfriesische Institut abhelfen, indem es Romane nordfriesischer Autorinnen um 1900 neu auflegt. Einer davon ist Elfriede Rotermunds „Godber Godbersen“, der das harte Leben auf den Halligen beschreibt. Herausgeber Arno Bammé erklärt, warum dieser Roman heute wieder wichtig ist

„Godber Godbersen“ spielt im 18. Jahrhundert auf den Halligen Nordmarsch, Gröde und Oland. Im Zentrum steht das Leben des späteren Pastors Godber Godbersen. Ausführlich beschreibt Elfriede Rotermund Natur, Arbeit, Krankheit und Leid sowohl der zur See fahrenden Männer als auch der auf der Hallig arbeitenden Frauen. Elfriede Rotermund, die ursprünglich aus aus dem Teutoburger Wald stammte, lebte 16 Jahre lang – bis 1928 – mit ihrem Ehemann, dem Pfarrer Robert Rotermund, als Lehrerin auf der Hallig Oland. „Godber Godbersen“, ediert 1928, ist ihr einziger Roman. Daneben hat Elfriede Rotermund zahlreiche Novellen verfasst, die harte Frauenschicksale zum Thema haben. PS

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Herr Bammé, warum geben Sie diesen langatmigen, sentimentalen Roman gerade jetzt neu heraus?

Arno Bammé: Das hängt unter anderem mit der gesellschaftspolitischen Situation zusammen. Einerseits werden die Strukturen immer größer: Brüssel schreibt uns vor, was wir zu tun haben und kaum jemand kann sich damit identifizieren. Andererseits brauchen die Menschen Identifikationsobjekte. Und da ist meine Erfahrung, dass sie zunehmend auf die Region, in der sie leben, zurückgreifen. In Deutschland ist da allerdings der Bruch in der Kriegs- und Nachkriegszeit zu berücksichtigen: der Missbrauch all dessen, was mit Heimat zu tun hatte, durch die Nazis. Deshalb kann man nicht einfach anknüpfen an das, was einmal war. Das Wissen um manche Tradition ist also verloren gegangen. Deshalb hat das Nordfriesische Institut beschlossen, Werke nordfriesischer Autorinnen der Jahrhundertwende wieder aufzulegen, um wieder eine Beziehung zur Vergangenheit herzustellen. Wir dachten ursprünglich, das sei eine rein kulturpolitische Tat. Nun verkaufen sich diese Bücher aber extrem gut. Von Thusnelda Kühls „Der Lehnsmann von Brösum“ und von Käthe von der Eiders „Kihrwedder“, schleswig-holsteinischen Dorfgeschichten, gibt es schon die dritte Auflage.

Wer kauft diese Bücher heutzutage?

Zunächst einmal die Touristen in den entsprechenden Gegenden. Die befragen daraufhin die Einheimischen – ihre Vermieter zum Beispiel. Die bemerken, dass sie ein Defizit haben, das sie nacharbeiten müssen. Inzwischen kaufen sie diese Bücher auch, um sich über die Vergangenheit ihrer Gegend zu informieren.

Warum entstanden speziell zwischen 1870 und 1933 so viele Nordfriesland-Romane?

Das hängt vor allem mit den Umbrüchen jener Zeit zusammen. Um 1870 setzte die Industrialisierung ein. Das führte dazu, dass auch die nordfriesische Landbevölkerung in die Großstädte zog. Dort fühlten sich die Menschen entwurzelt und sehnten sich zurück. Da boten diese Romane über ihre Region einen extrem wichtigen Halt. In Hamburg und Berlin etwa hat es damals riesige Auflagen dieser Bücher gegeben. Auffallend ist dabei, dass die meisten dieser auch überregional bedeutenden Romane von Frauen geschrieben wurden.

Haben die Autorinnen bewusst für diese Entwurzelten geschrieben?

Ich glaube nicht. Die Motive variierten: Eines war Selbstvergewisserung, ein anderes – wie bei Margarete Böhme, die geschieden war – die Notwendigkeit, vom Schreiben zu leben. Käthe von der Eider wiederum hat vermutlich geschrieben, um ihre Kindheit aufzuarbeiten.

Elfriede Rotermund beschreibt akribisch Kleidung und Mobiliar auf der Hallig. Wollte sie das bewusst dokumentieren?

Möglicherweise. Wenn Elfriede Rotermund heute geboren würde, wäre sie sicher Wissenschaftlerin. Ihr erstes Buch, in dem sie Volkstänze der Lüneburger Heide dokumentiert, ist eindeutig eine volkskundliche Studie. Aber als Frau hatte sie damals keine Chance auf eine Universitätslaufbahn. Daher ist sie, wie etliche andere damals, Lehrerin geworden.

Warum gab es ausgerechnet in Nordfriesland um 1900 so viele schreibende Frauen?

Über die Ursachen dieses merkwürdigen Phänomens weiß man noch nicht viel. Dass dort überhaupt so viele Literatur entstand, hängt damit zusammen, dass in Nordfriesland ein hohes Sprachbewusstsein herrschte, weil die Gegend vielsprachig war: Hochdeutsch, Plattdeutsch, Jütisch – dänisches Platt – und verschiedene Formen des Friesischen existierten parallel.

Unter den Nazis bekamen einige der jetzt neu entdeckten nordfriesischen Autorinnen Schreibverbot. Elfriede Rotermund wurde 1938 aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, obwohl sie friesische Regionalliteratur schrieb. Wie standen die Nazis zu den Friesen?

Viele Friesen waren zunächst erfreut, als die Nazis an die Macht kamen. Sie dachten, jetzt würden sie als Minderheit endlich ernst genommen und würden in der Pflege ihrer Kultur und Sprache unterstützt. Denn sie fühlen sich nicht primär als Deutsche, sondern als Friesen. In der Tat steht ihre Sprache dem Dänischen und Englischen weit näher als dem Deutschen. Die Enttäuschung der Friesen war dann allerdings herb: Für die Nazis waren die oft großen, blauäugigen Friesen bloß die „besseren Deutschen“. Als dies offenbar wurde, hat sich die friesische Bewegung gespalten – in eine nationalfriesische Bewegung, die zu Dänemark tendierte, und in die deutschfriesische Bewegung. Deren Flügelkämpfe hat erst das 1965 gegründete Nordfriesische Institut ein wenig mildern können.

Fotohinweis:ARNO BAMME, 64, lehrt in Klagenfurt Didaktik und leitet das Grazer Kolleg für Wissenschafts- und Technikforschung FOTO: PRIVAT