Die Melancholie des Temporären

Erinnerung ist wie ein Duft: Ein Wohnhaus in der Torstraße 166 wird für 17 Tage zum „Haus der Vorstellung“

Letztlich findet in der Torstraße 166 vielleicht alles statt, was sowieso zu Biografie eines Hauses gehört. Nur in destillierter und übersteigerter Form, eben in Kunst übersetzt: Ablagerungen von Zeit, Geschichten, Begegnungen, Essgelage. Die Duftforscherin Sissel Tolaas zum Beispiel, die über 7.800 Gerüche archiviert hat, nähert sich dem Haus auf proustische Weise: Sie hat in „ihrer“ Wohnung Duftspuren ausgelegt, die die Erinnerungen repräsentieren sollen, die der Raum über die Jahre gespeichert hat.

Die Kuratoren Jaana Prüss, Ralf Schmerberg und Peter Weber luden zwölf Architekten, Stylisten und Künstler in das leerstehende Haus ein. Gesponsert wird das Projekt von einer großen Baumarktkette, in deren TV-Werbung die fiesesten Bruchbuden zu Traumwohnungen mutieren. Peter Weber weist darauf hin, dass die Grenzen zwischen Kunst und Handwerk ja womöglich sowieso verschwimmen, gibt aber auch zu, dass es manchmal schwierig war, bestimmte Positionen gegenüber der Werbung zu halten. Denn es lässt sich hier und da Gemecker vernehmen, „früher“ wären leerstehende Häuser ohne jeden Kommerz zum Kunstraum geworden.

In einer Wohnung im Erdgeschoss arbeiten Franz Hoefner und Harry Sachs mit typischen Baumarktmaterialien, die „unfähig zur Patina und damit zur Geschichte“ sind, wie Hoefner sagt: Laminat oder Raufaser geben vor, etwas zu sein, das sie gar nicht sind. Darüber will Hoefner sich nicht lustig machen, sondern den Materialien vielmehr eine Geschichte schaffen. Das „Raumlabor“ montiert derweil das typische Innenleben einer Plattenbauwohnung in den Stuck- und Parkettraum der Gründerzeit; eine Reflektion auch über die Wohnraumpolitik in Berlin.

„Bespielen“ scheint das Lieblingswort aller Beteiligten zu sein; die Künstler bespielen ihre Wohnungen, der Barmann im „Salon“ bespielt seine Bar. Das Wort soll vielleicht auf eine gewisse Performativität hinweisen, beinhaltet aber eben auch das, wofür man am meisten Vorstellungskraft braucht: das Spielen im eigentlichen Sinn. Und darum geht es nicht nur in der Wohnung im Erdgeschoss, die schon per Türhöhe den Besuchern unter etwa ein Meter zwanzig vorbehalten ist. Auch in vielen anderen Wohnungen macht die Kunst Spaß wie eine Hüpfburg. So löst das Künstlerkollektiv Plastique Fantastique die Starrheit des Grundrisses auf, indem sie ihre Wohnung mit riesigen Kunststoffblasen füllt, in die man sich hineinwerfen kann.

Wie in jedem alten Haus hat aber auch das Unheimliche seinen Platz: Eine der spektakulärsten Installationen stammt von Chiharu Shiota, die eine ganze Wohnung in ein schwarzes Netz eingesponnen hat. Im obersten Stockwerk, durch dessen geborstene Decke man bis in den Dachstuhl sehen kann, befindet sich der „Salon“, hier gibt es Kochperformances, Partys, Wodka aus Karaffen und Diskussionen an einem großen Tisch.

Als auf allen Stockwerken noch gewerkelt wird, spricht eine Mitarbeiterin von der Melancholie des Temporären; dass für 17 Tage das Haus gewissermaßen neu gebaut wird, um sich danach wieder zurückzuverwandeln. Dass die Kunst nur eine Zwischenstation ist, weist letztlich zurück auf das leidige Schreckgespenst der Gentrifizierung. Nach dem 12. Oktober wird jedenfalls wieder ein leeres, dunkles Haus dastehen, das noch einige unsichtbare Bilder mehr als zuvor gespeichert hat – bis am Ende jemand wirklich Laminat legt.

DANA BOENISCH

Bis 12. Oktober tägl. 12 bis 22 Uhr