Harte Fakten für harte Zeiten

Auf dem 47. Deutschen Historikertag in Dresden entdeckt das Fach das Thema Ungleichheit wieder. Eine Rückkehr zur Sozialgeschichte alten Stils ist damit nicht verbunden

Von der plötzlichen Rückkehr der Geschichte war zunächst kaum jemand mehr überrascht als die Historiker selbst

Die Hypothekenkrise war so ernst, dass sich die Organe des Staates zum Eingreifen gezwungen sahen. Mit einem komplexen Bündel von Gesetzen versuchten sie, den Niedergang aufzuhalten. Das war nicht einfach, denn durch zähe Kriege in den zurückliegenden Jahren war das Land bereits geschwächt und seine Bürger hatten hohe Schuldenberge aufgetürmt.

Für seine Studie über das Finanzpaket, das zu Beginn des dritten vorchristlichen Jahrhundert im griechischen Ephesos verabschiedet wurde, hat der junge Münchener Althistoriker Andreas Victor Walser einen der Nachwuchspreise auf dem 47. Deutschen Historikertag erhalten, der zum Wochenende in Dresden zu Ende ging.

Auf härtere Zeiten hatten sich die Wissenschaftler schon vor knapp zwei Jahren eingestellt, als sie für ihren Kongress das Rahmenthema „Ungleichheiten“ festlegten. Zwar war das Motto allgemein genug, um auch jene feinen Unterschiede von Mentalitäten und Diskursen zu erfassen, denen sich das Fach zuletzt mit Vorliebe widmete. Doch ließen sich angesichts der Zeitläufte die harten Indikatoren sozialer Ungleichheit, die so lange aus der Mode geraten waren, nicht mehr ausblenden – auch wenn von der Rückkehr der Geschichte niemand mehr überrascht war als die Historiker selbst.

Gekommen waren noch einmal einige der fast 80-jährigen Heroen der bundesdeutschen Sozialgeschichte wie Hans Mommsen oder Gerhard A. Ritter, auch der zehn Jahre jüngere Jürgen Kocka. Über allen Flurgesprächen und abendlichen Empfängen des Historikertags, der vor barocker Kulisse ungewohnt glamourös geriet, schwebte als großer Abwesender aber der Bielefelder Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler.

Allgegenwärtig waren die bissigen Töne über jene wüste Polemik gegen Ostdeutsche und Türken, Achtundsechziger und Konsumhedonisten, die Wehler gerade als fünften Band seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ herausgebracht hat. Doch den Wehler’schen Themen, den Strukturbedingungen sozialer Ungleichheit zumal, konnte der Kongress angesichts seines Rahmenthemas nicht ausweichen. Sie feierten ihre Wiederauferstehung – allerdings in einer erweiterten und weniger dogmatischen Form.

Fast schon hätte man zuletzt Gelehrte wie den Münchener Hans Günter Hockerts bedauert, der sich mit Beharrlichkeit den Wandlungen des Sozialstaats widmete, obwohl sich das Thema – wie Hockerts in Dresden sagte – „im Zeichen von Diskursen zu verflüchtigen“ schien. Die Sozialstaatsdebatte der rot-grünen Zeit war fast ausschließlich von Ökonomen beherrscht. Geistes- und Sozialwissenschaftler beschränkten sich meist darauf, die Reformen persönlich irgendwie doof zu finden und sie professionell zu ignorieren. Dass der Sozialstaat alten Stils Umverteilung von oben nach unten hervorbringe, wurde vorausgesetzt.

Genauso gut kann der Wohlfahrtsstaat soziale Ungleichheit aber auch hervorbringen, zumindest aber konservieren und legitimieren. Gleichwohl betonte Hockerts den „komplexen Eigensinn nationalstaatlicher Arrangements“, der abrupte Änderungen so schwierig macht. Diesen Faktor haben die Sozialstaatsingenieure aus den ökonomischen Fakultäten vollkommen unterschätzt, auch deshalb, weil sie sich der Wirtschaftsgeschichte zuletzt fast vollständig entledigt und die entsprechenden Lehrstühle abgeschafft haben.

Für Historiker liegt darin allerdings auch eine Chance, wenn sie diese Lücke entschlossen füllen. Dass sie sich diesem Gedanken allmählich öffnen, darauf deuten zumindest zwei Entscheidungen hin: Zu ihrem neuen Vorsitzenden wählten sie einen ausgewiesenen Wirtschaftshistoriker, den 53-jährigen Werner Plumpe aus Frankfurt am Main, und ihre nächste Tagung wollen die Geschichtsforscher an der Berliner Humboldt-Universität abhalten, ganz dicht am Zentrum der politischen Macht.

Die Zeiten, in denen sich das Fach mit einer teils esoterischen Themensetzung selbst marginalisierte, gehen möglicherweise dem Ende zu – auch wenn die wortmächtigen Kombattanten, die der Generation der Wehlers und Mommsen nachfolgen könnten, nach wie vor nicht erkennbar sind. Thomas Mergel, Nachfolger des um politische Interventionen nie verlegenen Heinrich August Winkler an der Berliner Humboldt-Universität, versuchte es immerhin schon mal. „Wir müssen die großen Themen neu erzählen“, mahnte er auf einem Podium zur neuen Politikgeschichte, „sonst werden wir abgeschoben.“

Wie das funktionieren könnte, das demonstrierte Ute Frevert, eine der wenigen prominenten Frauen in dem männerdominierten Fach. Sie referierte über die Rolle des Vertrauens in der repräsentativen Demokratie. Anders als die vordemokratische Treue, so Frevert, sei Vertrauen keine absolute Kategorie. Es könne langsam aufgebaut, aber auch schnell wieder zerstört werden. Vor allem aber gelte: „Wer offensiv um Vertrauen wirbt, weckt Misstrauen.“ Ein Zusammenhang, den die üppigen Rettungspakete in der aktuellen Finanzkrise erneut zu bestätigen scheinen. RALPH BOLLMANN