Kulturpolitik der türkischen AKP: Der Nährboden der Literatur

Die Kemalisten ließen Shakespeare und Flaubert ins Türkische übersetzen. Doch heute bedeutet Kultur den Kampf zwischen den Traditionalisten und den Islamisten.

Kemal Atatürk spaltet immer noch die türkischen Schriftsteller. Bild: dpa

"Faszinierend farbig" heißt das Motto, unter welchem sich das Gastland Türkei auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert. Doch bereits ein flüchtiger Blick auf die intellektuelle Szene des Landes offenbart, dass wir nicht mit der Faszination eines Regenbogens konfrontiert sind, sondern mit Intellektuellen, die in unversöhnliche Lager gespalten sind und einen erbitterten Krieg gegeneinander führen. Einen Vorgeschmack lieferten mehrere Dutzend Autoren, die ankündigten, die Frankfurter Buchmesse zu boykottieren. Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP versuche ein Bild der Türkei als "Land des gemäßigten Islam" zu verkaufen.

Unter den Boykotteuren sind bekannte Namen wie Ahmet Oktay, Leyla Erbil, Tahsin Yücel oder die Literaturkritikerin Füsun Akatli. Zum Eklat kam es, als ein bereits angekündigtes Oratorium zu Ehren des kommunistischen Lyriker Nazim Hikmet aus dem Programm gestrichen wurde - der Komponist Fazil Say hatte die Kulturpolitik der Regierung attackiert. Doch die Boykotteure bilden eine eher unbedeutende Minderheit unter den türkischen Autoren, auch deshalb weil das Rahmenprogramm der Frankfurter Messe durchaus versucht, der Vielfalt der Stimmen in der Türkei gerecht zu werden.

Aber das Verhältnis zum politischen Islam, zur regierenden AKP und zum Kemalismus sind heute Gegenstand erbitterter Debatten im Geistesleben der modernen Türkei. Es ist die Debatte um türkische Identität. Vergangenheitsbewältigung und Projektion in die Zukunft. Woher kommen wir? Wohin gehen wir?

Der Kemalismus, benannt nach dem Gründer der türkischen Republik Kemal Atatürk, ist bis heute nicht nur Staatsdoktrin, sondern war auch der Nährboden für die literarische Produktion in den Jahrzehnten nach Gründung der Republik im Jahre 1923. Die Intellektuellen waren Teil der politischen Elite, die das ehrgeizige Projekt anging, auf den Trümmern des Osmanischen Reichs einen modernen Nationalstaat zu konstruieren.

Die Türkei orientierte sich gen Westen. Die bürgerlichen Revolutionen Europas waren Vorbild. Der Laizismus, die Trennung staatlicher Angelegenheiten von der Religion, gehörte zum wichtigen Instrumentarium der Staatsgründer. Der Nationalismus sollte wider die Religion für die Bürger Identität stiften. Aufklärung wurde von oben verordnet - eine kulturelle Neuorientierung unter staatlichem Zwang. Die Einführung des lateinischen Alphabets war ein gewaltiger Bruch im Kulturleben des Landes, das mit einem Schlag der jüngeren Generation den Zugang zu alten Büchern versperrte. Und: Wie beeindruckend die 496 Titel aus Philosophie und Literatur, die das türkische Kultusministerium in den 1940er-Jahren übersetzen ließ und veröffentlichte. Skakespeare, Baudelaire, Goethe, Flaubert, Rimbaud, Tolstoi, Dostojewski, Tschechow ebenso wie Rousseau, Platon, Galileo und Kierkegaard.

Die Mehrheit der türkischen Intellektuellen waren natürliche Verbündete des Kemalismus. Die eigene Rolle - der aufklärende Intellektuelle, der auf dem Land gegen die Finsternis religiös-traditioneller Rückständigkeit kämpft, findet sich als Motiv vieler literarischer Romane aus dieser Periode.

Doch der Kemalismus als politisches System hat sich überlebt. Regiert wird die Türkei heute von Männern, die in Bewegungen des politischen Islam groß geworden sind. Die Institutionen, die sich immer noch als Speerspitze des Kemalismus begreifen - allen voran das Militär - haben herbe Niederlagen einstecken müssen. Auch der verzweifelte Versuch, die Regierungspartei durch das Verfassungsgericht verbieten zu lassen, scheiterte. Nun wird den alten Mächten Stück für Stück die politische Macht entrissen. Und auch die ideologische Dominanz des Kemalismus ist angeschlagen.

Interessant ist der kulturelle Niederschlag dieser Entwicklung. Er lässt sich am besten in den politischen Kolumnen der Tageszeitungen im letzten Jahrzehnt ablesen. Viele haben eine neue Lesart des Kemalismus entwickelt. Besonders auffällig dabei die Tageszeitung Taraf, die von dem türkischen Schriftsteller Ahmet Altan gegründet wurde und mit dem Kemalismus abrechnet.

Viele Kolumnisten sehen heute im Liberalismus ihre politische Heimat. Der repressive kemalistische Staat und die totalitären Züge werden tagtäglich vorgeführt. Die AKP als politische Partei dagegen wird als Ausdruck der zivilen Gesellschaft begriffen, die sich der Gängelung durch die alten Eliten erwehrt. So sind es Liberale - viele von ihnen mit einer linksradikalen Vergangenheit - die heute den Hauptwiderspruch zwischen europafeindlichen, autoritären Laizisten und europafreundlichen, muslimischen Demokraten ausmachen. Zu Ersteren zählt Armee, Justiz und die Oppositionsparteien, Letztere nehmen in der AKP Gestalt an. Trotz ihres konservativen Charakters sei die AKP Motor des Demokratisierung des Landes. Auch viele europäische Politiker und Journalisten haben sich diese Lesart zu eigen gemacht.

Gerade weil der Kemalismus mystifiziert wurde und jegliche Kritik über Jahrzehnte tabu war, schnuppert man nun mit der AKP Morgenluft. Es lohnt ein Blick auf das Verhältnis von AKP und Kultur. Dabei sollte man nicht nur auf die Außenrepräsentation wie bei der Frankfurter Buchmesse ein Auge werfen, sondern auch den kulturpolitischen Alltag berücksichtigen.

Die berühmte Schriftstellerin Latife Tekin war im Juni zu einem Kulturfestival in der Stadt Karabük eingeladen. Sie kritisierte in ihrer Rede die Energiepolitik der Regierung, die den Bau von Atomkraftwerken vorantreibt. Dies sei "niederträchtig", so der dortige AKP-Bürgermeister. Er schritt ans Rednerpult, entriss ihr das Mikrofon und stieß Verleumdungen und Drohungen gegen sie aus. Tekin musste die Stadt verlassen.

Ähnlich erging es den Filmemachern Aydin Kudu und Rüya Arzu Köksal, die in Inebolu ihren Dokumentarfilm über die ökologischen Folgen des Autobahnbaus entlang der Schwarzmeerküste aufführten. Der Bürgermeister persönlich brach die Aufführung ab und beschimpfte die Filmemacher, die aus Angst vor den Männern der AKP die Stadt verlassen mussten. Grund des Zorns des AKP-Bürgermeisters war, dass in dem Film Ministerpräsident Erdogan gezeigt wird, wie er den Autobahnbau verteidigt.

Die Vorfälle in Karabük und Inebolu sind keine Einzelfälle durchgeknallter Provinzfürsten, sondern spiegeln den Gemütszustand vieler AKP-Funktionäre wieder. Intoleranz und die Verneinung des Rechts anders zu denken sind durchaus mit ihrem religiös-reaktionären Weltbild zu vereinbaren.

Dieses Weltbild tritt auch beim türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan, einem Populisten, immer wieder auf, sobald er vom Redemanuskript abweicht und frei spricht. Dann offenbart sich beispielsweise, dass er Frauen als Gebärmaschinen begreift oder dass er Gehorsam vor der Obrigkeit für eine türkische Tugend hält.

Die Kemalisten hatten dem Volk einst eine neue Kleiderordnung verordnet, verbannten aus dem Türkischen Wörter, die arabisch oder persisch klangen. Autoritär intervenierte der Staat damals in die Alltagskultur. Mit der Tradition staatlicher Intervention unter anderen Vorzeichen kann sich Erdogan durchaus anfreunden. Während des Fastenmonats Ramadan sprach Erdogan auch einmal von Kultur, genauer von "kultureller Erosion". Es ist höchst aufschlussreich, wo er die kulturelle Erosion ausmachte: bei all denjenigen Bürgern, die vom "Zuckerfest" im Anschluss an den Ramadan sprechen. Richtig heiße es Ramadan-Fest. Doch die Bezeichnung Zuckerfest ist schon seit dem Osmanischen Reich gebräuchlich. Erdogan dachte fälschlicherweise der Begriff Zuckerfest sei eine Erfindung religionsfeindlicher Kräfte. Wieder versucht der Staat die Sprache der Bürger zu besetzen - diesmal unter islamischen Vorzeichen.

Die AKP hat sich wirtschaftspolitisch dem Neoliberalismus verschrieben. Unter ihrer Regierung wird privatisiert wie nie zuvor in der türkischen Geschichte. In Zeiten, wo staatliche Regulierung als das kommunistische Böse verdammt ist und die Regierung 1.-Mai-Demonstrationen der Gewerkschaften niederknüppeln lässt, versucht sich der Staat in der Enteignung der Sprache und Kultur der Menschen.

Doch das Projekt staatlicher verordneter Identität ist schon bei den Kemalisten gescheitert. Und nichts spricht dafür, dass eine eklektische politische Bewegung, die religiösen Konservativismus mit neoliberaler Wirtschaftspolitik verbindet, Identität stiften könnte.

So stehen stürmische Zeiten bevor. Wir ahnen es, wenn wir die Motive und Themen moderner türkischer Literatur betrachten. Die Frankfurter Buchmesse mit vielen übersetzten Titeln aus dem Türkischen bietet die Gelegenheit in die Widersprüche der türkischen Gesellschaft einzutauchen. Und es ist sicherlich kein Zufall, dass die Schriftsteller hervorragender Werke sich politisch jenseits des Kemalismus und jenseits des Islamismus einordnen.

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