Gebildete glauben an Astrologie: Akademikerin, 40, Waage, sucht Woge

Ist Aberglaube die Überlebensvernunft des Prekariats? Die Franzosen zumindest sind desto anfälliger, je gebildeter sie sind, besagt eine neue Studie.

"Was dumm war, soll dreist werden …": Sigmund Freud. Bild: ap

"Man erinnert sich, dass China und die Tische zu tanzen anfingen, als alle übrige Welt stillzustehn schien", schrieb Karl Marx 1872. Es war die Zeit des Biedermeiers und der abendlichen Séancen von Spießern, die in Kontakt mit Verstorbenen kommen wollten, um von ihnen Weisungen zur rechten Lebensführung zu empfangen. Ähnlich wie der Pharao Amenhotep, als er Joseph kommen ließ, damit der ihm seine Träume deute - aber nicht so wie später beim Traumaufklärer Freud. Denn das waren keine Eingebungen von unten, aus dem Leib, sondern von ganz oben, von den Weltenlenkern. Das Schlitzohr Joseph deutete sie ganz staatspolitisch aus: Dem Pharao sei durch seine Träume eine Art Bismarcksches Sozialfürsorgesystem empfohlen worden.

Noch jede Partnersuchanzeige in Stadtmagazinen bewegt sich gedanklich in diesem Weltbewegungsfeld, wo das Kleinste vornehmlich mit dem Größten wechselwirkt. Die Sterne lenken unser aller Schicksal: bis in den brummenden Lebenslauf eines Weddinger BVG-Busfahrers hinein. Und so steht etwa konkret "der impulsive Widder" für ebenso exakte wie ganz allgemein gehaltene "Charaktereigenschaften", auf die sich Astrologen und Horoskopredakteure geeinigt haben. Beides ist gleich bescheuert und spätestens seit Jacob Burckhardt und Theodor W. Adorno ein übles "Dekadenz-" beziehungsweise "Regressionsphänomen". Abgesehen davon produziert der Aberglaube aber natürlich laufend aberwitzige Geschichten, wozu die Josephinische bestenfalls die Urpointe liefert. Denn es geht ja in jedem Fall um die verständnisheischende Artikulation einer "Überlebensvernunft", wie Ekkehart Krippendorff das genannt hat.

Eine wahre Tour de Force zur Herausforderung der übernatürlichen Kräfte unternahm die taz-Autorin Lilli Brand. Nachdem sie ihr verspuktes ukrainisches Provinznest 1996 verlassen hatte, bestand ihr bewusster Einstieg in den Aberglauben aus dem Besuch eines teuren indischen Wahrsagers in Karlshorst. Und steigerte sich dann derart, dass sie sich schließlich sogar für eine Zugreise nach Nürnberg bei einer moldawischen Kartenlegerin in Hohenschönhausen Rat holte. Wobei gesagt werden muss, dass deren Weisheiten durchaus von vernunftsorientierter Lebenserfahrung zeugten. Lilli Brand jedoch steigerte noch ihre Hoffnung auf das Übersinnliche - und sei dies ein lohnender Zufall. Um diesem auf die Sprünge zu helfen, beteiligte sie sich an Glücksspielen: von komplizierten Lotteriesystemen bis hin zu allen Postwurfsendungen, die ihr ein "Riesenvermögen" mit "sicheren Gewinnchancen" in Aussicht stellten, wenn sie vorneweg dies und das ausfüllte und bezahlte.

Noch immer bemüht sie gelegentlich eine Wahrsagerin: Nun aber weitaus billiger via Internet, wo diese Branche für Berlin und Umland eine eigene Vermittlungszentrale betreibt. Man lernt viel über Einfühlungsvermögen und Gesprächsführung, meint Lilli, fühlt sich via Paycalls aber auch verstanden. Sie träumt davon, eine eigene Wahrsagepraxis aufzumachen. Dann könnte sie auch einige ihrer ukrainischen Freundinnen einstellen, die sogar noch mehr mit dem Übersinnlichen verbunden sind als sie und die ebenfalls lieber heute als morgen aufhören würden, in Bordellen zu arbeiten. Diese Idee beschwingt sie. Und obwohl sie sich darüber bisher so gut wie ausgeschwiegen hat, riet ihr eine Journalistin bereits, das Serviceangebot auf "I Ging" zu erweitern, mit der Begründung: "Das hat mir mal das Leben gerettet."

Die französischen Soziologen Daniel Boy und Guy Michelat haben kürzlich untersucht, "wie sich die Faktoren Bildungsniveau und Beruf auf den Glauben an Okkultismus und Astrologie auswirken". Dabei kam heraus, dass die Franzosen um so anfälliger "für Irrationalismus und Aberglaube" sind, je höher ihr Bildungsniveau ist. Anders gesagt: Die dortigen Landwirte "stehen den übersinnlichen Mächten am skeptischsten gegenüber". Dennoch hat die Aufklärung auch bei den Intelligenzlern als neuer Biedermeierklasse etwas bewirkt - laut Boy und Michelat: Früher verschoben die übernatürlichen Kräfte ganze Tische, heute sind sie so geschwächt, "dass sie allenfalls einen Fetzen Papier von der Stelle bewegen". Für Autoren allemal Grund genug, noch mit ihnen zu rechnen.

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geb. 1947, arbeitet für die taz seit 1980, Regionalrecherchen, ostdeutsche Wirtschaft, seit 1988 kulturkritischer Kolumnist auf den Berliner Lokalseiten, ab 2002 Naturkritik.

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