Unsichtbare Wirklichkeiten

Gerhard Richter ist einer der erfolgreichsten Künstler der Gegenwart. In Köln und Leverkusen sind nun eher wenig beachtete Werkkomplexe zu sehen, übermalte Fotografien und abstrakte Bilder

VON MARKUS WECKESSER

Gerhard Richter kann auch lächeln. Der auf Fotografien für gewöhnlich mürrisch wirkende Maler nimmt den Trubel um seine Person eher amüsiert hin. Zwar freut den Künstler die Aufmerksamkeit, die ihm entgegengebracht wird, doch „man kommt nicht zum Malen“. Mehr Gelassenheit insgesamt wäre wünschenswert. Denn der anhaltende Hype verstellt den Blick auf das Wesentliche: Angesichts der Flut an Meldungen über neue Auktionsrekorde von Richters Werken und aktuelle Rankingplatzierungen gerät die künstlerische Leistung des Künstlers mitunter zur Nebensache. Gefeiert wird eine Marke, nicht die Kunst. Das ist nichts Neues, stimmt aber doch immer wieder ärgerlich.

Seit dem vergangenen Wochenende sind zwei exzellente Ausstellungen zu sehen, die sich nicht auf die Vielseitigkeit des Künstlers zu kaprizieren versuchen. Stattdessen konzentrieren sich die beiden Schauen auf bislang eher wenig beachtete Werkkomplexe. Im Leverkusener Museum Morsbroich sind es die übermalten Fotografien, im Kölner Museum Ludwig die abstrakten Bilder. Letztere machen inzwischen drei Viertel von Gerhard Richters Gesamtwerk aus. Ausgewählt wurden knapp 40 großformatige Arbeiten aus den Jahren 1986 bis 2008, die zum Teil noch nie in Deutschland ausgestellt wurden. Sie werden nun in unmittelbarer Nähe des Doms gezeigt, wo Richters abstraktes Kirchenfenster vor nicht allzu langer Zeit für Diskussionen sorgte. Obgleich die Bilder, anders als etwa die abstrakte Kunst der Nachkriegszeit, nicht auf emotionale Qualität abzielen, vermitteln gerade die Werkreihen eine innere Stimmigkeit, die sie als zusammengehörig ausweist.

Eröffnet wird die Schau mit der Serie „Wald“ (2005), die als einzige gegenständlich anmutet und daher trefflich geeignet ist, einen Zugang zu den sperrigen Bildern zu ermöglichen. Breite, mit einem Quast gezogene graue Streifen suggerieren vage mehrere Baumstämme. Unter dunklen Farbschichten und Schleiern schimmern gelbe, grüne und rote Flächen. Tritt der Betrachter sehr nahe an ein gegenständliches Bild heran, lösen sich die Pinselstriche in abstrakten Spuren auf. Bei den abstrakten Bildern Richters ist der Effekt umgekehrt. Zwischen den Farbschichten tut sich ein Mikrokosmos differenter Malspuren auf. Vernetzungen und Verschleifungen, Krater und Kratzer, Fissuren und Strukturen bilden eine so heterogene wie antihierarchische Entdeckungslandschaft. Eingeklebte Pinselhaare inklusive.

Erklärtermaßen diente Richter keine Fotografie als Vorlage oder Ausgang. Dennoch scheint es, als hätte der Künstler dort angesetzt, womit er bei den Landschaftsbildern endete, mit einer ikonoklastischen Geste. Indes gestaltet sich der gesamte Malprozess als Überwindung der tradierten Abstraktionspraxis. Mit Pinseln und Spachteln trägt Richter zunächst Ölfarbe auf die Leinwand auf. Ein anderes Werkzeug ist der Rakel, ein Holzbrett, mit dem überschüssige Farbe abgenommen oder verwischt wird. Zufall führt ebenso Hand wie spontaner Einfall. So bringt jede weitere Bearbeitung neue Konstellationen von Flächen und Strukturen hervor, die einander in vielen Schichten überlagern, überdecken oder vernetzen.

Bis zur Fertigstellung des Bildes „Rot“, das leider nicht ausgestellt ist, bedurfte es insgesamt 33 Vorgänge. Dabei handelt es sich nicht um Ergänzungen und Verfeinerungen, sondern um die Neuschaffung auf der Grundlage des jeweils Vorhandenen. Eine fotografische Dokumentation aller einzelnen Schritte, die im Katalog abgebildet ist, gibt eine Ahnung von der Komplexität der Entstehung. Der Anfang falle ihm leicht, gesteht Richter, wobei man eine fixe Idee vermeiden solle. „Doch man wird immer unfreier, bis das Bild fertig ist.“ Ein Außenstehender mag jeden Zustand für sich als originär nehmen. Zum Schluss liegen 32 Bilder unter dem endgültigen „Rot“ verborgen.

Während die Bezeichnung hier in der dominierenden Farbe begründet liegt, lassen andere Titel nur bedingt Rückschluss auf das Abgebildete zu. Die Serien „Cage“ und „Bach“ etwa entstanden, als Richter Musik der beiden Komponisten hörte. Dennoch wäre es vermessen, eine Analogie zur Klangwelt von Bach und Cage zu bilden, außer vielleicht in der schrittweisen Hervorbringung des Werkes, wie Kurator Ulrich Wilmes schreibt. „Titel sind von Vorteil für den Betrachter“, erläutert Richter, „so kann man sich Bilder besser merken als durch Nummern.“ Wie bei den Bildern der Serie „Wald“ verbindet auch „Bach“ und „Cage“ eine harmonisch anmutende Farb- und Oberflächenstruktur. Frühe Einzelwerke wie „Courbet“ (1986) oder „Schräge“ (1988) fordern ungleich mehr Orientierungsvermögen. Alle Bildelemente scheinen in wilder Bewegung. Flächen stoßen aneinander, bilden Wirbel und Grate, zerfasern und benetzen darunter liegende Strukturen. Farbwellen durchpflügen die Bilder und werden selbst wiederum von schlangenartigen Streifen und aufgerissenen Verwischungen bedeckt. Die Erfahrung einer transzendentalen Realität im vermeintlichen Chaos mag Richter für den Betrachter nicht ausschließen: „Abstrakte Bilder sind fiktive Modelle, weil sie eine Wirklichkeit veranschaulichen, die wir weder sehen noch beschreiben können, auf deren Existenz wir aber schließen können.“

Nicht recht ins Konzept der Ausstellung passt eine 100-teilige Arbeit von Hinterglasbildern, die wie ein unverhofftes Anhängsel im Kabinett des Seitenflügels präsentiert werden. Weder die Größe (30 x 40 cm) noch die Technik sind mit den übrigen Arbeiten zu vergleichen. Richter hat verschiedenfarbige, dünnflüssige Lacke auf eine Platte gegossen, dekorativ ineinanderlaufen lassen und mit dem Bildträger abgenommen.

Umso mehr begeistert die Anwendung von Lack oder wahlweise Ölfarbe auf den übermalten Fotografien, die in Leverkusen zu sehen sind. Denn die Bilder im Zwischenreich von Abstraktion und Gegenständlichkeit charakterisiert eine überraschende Art von Wärme und Humor, die man bei Richters anderen Werken vergeblich sucht. In nahezu jeder Arbeit vermittelt sich der Spaß des Künstlers an der Bildfindung. Die Fotografie eines schneebedeckten Hügels, dessen Kamm mit einer Reihe von Tannen bestanden ist, überzog Richter mit einem feinen Netz roter Farbkleckse. Die Pünktchen scheinen wie Schneeflocken über der Landschaft zu tanzen. Möglicherweise handelt es sich um verzauberten Schnee, überlegt Siri Hustvedt in ihrem Katalogbeitrag. Was für die Schriftstellerin zählt, ist allein die „optische Poesie“. Damit beschreibt sie sehr gut den Reiz und die Qualität der übermalten Fotografien, die neben dem Sehvergnügen in der Verführung zur Assoziation liegen. Sammler erfinden gar Namen für die titellosen Bilder, auf denen Richter nur den Entstehungstag vermerkte. So zeigt das „Walbild“ nach Ansicht seiner Besitzer einen Belugawal, gebildet aus weißen und schwarzen Lacktupfern, die sich von rechts in das Bild schieben.

Als Grundlage für die übermalten Fotografien dienen Richter Abfallprodukte. Etwa Farbreste, die auf dem Rakel zurückbleiben. Richter legt das Foto auf die überschüssige Farbe oder er zieht es über die Kante des Werkzeugs. Je nach Druck und Bewegungsrichtung entstehen Verwischungen, Verästelungen, Schlieren, biomorphe Formen und wellenähnliche Verläufe. Einen Teil der Bilder hat Richter auch mit Farbtupfern und Klecksen besprenkelt. Anders als bei den abstrakten Bildern muss der erste Versuch glücken, sonst ist der Bildträger unbrauchbar. Da dies nicht oft gelingt, wandert mehr als die Hälfte der Produktion in den Abfall.

Bei den Fotografien handelt es sich um handelsübliche Laborabzüge (10 x 15 cm) von privaten Knipserbildern ohne künstlerischen Anspruch, von Gerhard Richter aufgenommen im häuslichen Alltag und auf Reisen. Sie zeigen den kleinen Sohn und die Tochter beim Spiel im Haus und im Garten, die Familie an der See und im Gebirge. Obschon private Momente gezeigt werden, gewähren die Bilder keinen indiskreten Einblick. Mögen die Familienmitglieder auch identifizierbar sein, so sind sie für den Betrachter doch nicht mehr als bloß Stellvertreterfiguren.

Der überwiegende Teil der rund 500 übermalten Fotografien wurde noch nie öffentlich ausgestellt. Lediglich drei Serien des Werkkomplexes sind bislang publiziert und so der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Darunter „Firenze“ und die Übermalungen von Seiten der FAZ mit dem Titel „War Cuts“. Anfangs verschenkte Gerhard Richter die Bilder an Freunde und Bekannte, sodass die Arbeiten weder in Galerien noch auf Ausstellungen zu sehen waren. Ein anderer Teil fand Eingang in Richters riesige Materialsammlung „Atlas“, bevor sich eine eigenständige Gruppe herausentwickelte. Der Präsentationsrahmen im Museum Morsbroich ist ein Glücksgriff. Die parkettierten, schlichten Räume des in seiner Anlage barocken Stadtschlösschens eignen sich perfekt für die kleinen Formate.

Beide Ausstellungen zeigen Wege aus dem Hype. Trotzdem konnten die Macher im Museum Ludwig nicht widerstehen, den Köln-Bonus auszuspielen. In der Wahlheimat des gebürtigen Dresdners könne man die Kenntnis von der Person Richter und seiner Arbeit voraussetzen, nur wenige Werke seien in dieser Stadt so bekannt wie das seinige. Indes mochte sich der Künstler nicht vereinnahmen lassen. Den Ausschlag für seinen Wohnsitz gab, so Richter, „nur die schöne Etage, die ich da kaufen konnte“. Sprachs und lächelte.

„Abstrakte Bilder“. Bis 1. Februar 2009, Museum Ludwig, Köln, Katalog 49,80 € „Übermalte Fotografien“. Bis 18. Januar 2009, Museum Morsbroich, Leverkusen, Katalog 39,80 €