Im Echoraum der Sprache

Nach allen Diskursen: Christoph Geisers Roman „Wenn der Mann im Mond erwacht“

VON JOCHEN SCHIMMANG

Bereits mit dem ersten Satz von Christoph Geisers neuem Roman, nach eigenem Bekunden dem Abschlussband einer Trilogie des Scheiterns, wird man in einen Strudel hineingerissen und beginnt entweder zu schwimmen oder geht als Leser unter. Nun erstreckt sich dieser Satz über zweieinviertel Seiten, schlägt also Proust um Längen und endet dort, wo ein Autor naturgemäß hingehört: in seiner Bibliothek und zwischen all seinen Büchern nämlich.

Und in der Intertextualität. Man erinnert sich? „Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache lässt sich zumindest als eine doppelte lesen“ (Originalton Julia Kristeva). Christoph Geisers Bücher gehören nicht zu jenen gut konzipierten und gekonnt erzählten Romanen, die heute die Kritik entzücken und Preise gewinnen. Gerade das macht sie lesenswert. Es ist die Sprache selbst, die sich hier auf den Weg macht, natürlich in jenem tendenziell unendlichen Echoraum, in dem jeder sich bewegt, der Bücher schreibt.

Die deutlich ausgesprochenen oder nur angedeuteten intertextuellen Bezüge in diesem Buch seien hier durch eine kleine Namensliste nur angetippt. Grüßen lassen vernehmbar oder nur zaghaft Shakespeare, Baudelaire und Oscar Wilde, Roland Barthes und Georges Perec, Herr Handke und Frau Jelinek, Frisch und Bichsel, Lewis Carroll und Gertrude Stein, Ernst Jünger und Michel Tournier, Robert Walsers Institut Benjamenta und Uwe Johnsons Katze Erinnerung, sodann Caspar David Friedrich, Thomas Gainsborough und Andy Warhol, „so’n hergelaufener Schlawiner quasi, Ost-Slowake genauer, hergelaufen aus dem vergleichsweisen Nichts …“ Mit diesen Namen soll es dann mal gut sein, sonst ist kein Platz mehr.

Nein, einer ist unbedingt noch zu nennen, weil er in Geisers Roman eine zentrale Rolle spielt. Peter Weiss nämlich, dessen „Ästhetik des Widerstands“ der Erzähler passenderweise im Pergamon-Museum ersteht: „Silberig-blaue Reliefschrift auf schwarzem Buch-Umschlag, ein bißchen geschmäcklerisch eigentlich, und/oder poppig. Zwischen den Museums-Postkarten, die Fragmente unsres Fragments zeigen, beim Arsch des Porphyrion!, zum Kauf angeboten – als wär’s ein Gegen-Konzept. Von damals.“ Von damals, ja: „Kultbuch von damals! – Buch unter Büchern längst; vergessen oder mitleidig belächelt; und so können wir’s lesen, endlich, nach allem.“ Wobei die Lektüre, wohlgemerkt, in einem Berliner Waschsalon beginnt.

„Nach allem“: Das ist die Positionsbestimmung des Erzählers. Die einstmals wichtigen Diskurse sind vorbei, verändert, zerstört; der sozialistische spätestens seit 1989, eigentlich aber schon seit der Erstickung des Prager Frühlings gut zwanzig Jahre früher. Der homosexuelle Diskurs ist für alle Zeiten verändert, „eingekreist, ja belagert von einem Feind, von dem wir noch gar keinen rechten Begriff hatten. Keinen anständigen Namen. Nichts als ein Kürzel.“ Und die Ästhetik des Widerstands? Der Erzähler könnte sie allerhöchstens noch im „Einsturz dieser der Natur gemäß nicht nur vollkommen überflüssigen, sondern vor allem auch abgrundtief unästhetischen, heißt schlicht: hässlichen, klotzigen & klobigen architektonischen Aus- & Missgeburten“ sehen, sprich dem Angriff auf die Twin Towers: Nach den Regeln der derzeit geltenden proamerikanischen Political Correctness ist das natürlich bestürzend und beinahe unaussprechlich.

Nach allem, das Ende der großen Erzählungen also, das sich bei Geiser an einer Stelle lakonisch so liest: „Die Erzählung ist futsch.“ Die Trauer darüber ist jedoch nicht elegisch, sondern mal furios, mal ironisch gebrochen und entkommt auch nicht immer dem Kalauer: wo die Sprache sich auf diese Art selbst vorwärtstreibt, bleibt das nicht aus.

Am Schluss, bei der Beobachtung einer Sonnenfinsternis, schildert der Erzähler uns den Inuit-Mythos von Sonne und Mond, die Geschwister seien. „Wenn der Mann im Mond erwacht und die Sonne deckt, als wär’s sein Weib: und nicht vielmehr seine Schwester, und sie’s geschehen lässt, als gefiel’s ihr, so dass sie nicht flüchtet; drei Tage lang; von den Nächten gar nicht zu reden. So dass die Erde vereist, es eiskalt wird auf der Welt, die Zeit stillsteht und alles Leben erstirbt. Und nur beim Mann im Mond wär’s noch lustig? Und – wie kämen wir jetzt zu dem?“

Darauf gibt es keine Antwort. Der intertextuell erprobte Leser lächelt wissend und lacht auch zuweilen laut beim Lesen dieses mitreißenden Romandiskurses, aber noch öfter fröstelt ihn. Warum das so ist, hat vor mehr als zweihundert Jahren schon Hölderlin in einem Epigramm erklärt, das als Kurzkritik avant la lettre gelesen werden könnte: „Immer spielt ihr und scherzt? ihr m ü ß t! o Freunde! mir geht diß / In die Seele, denn diß müssen Verzweifelte nur.“

Christoph Geiser: „Wenn der Mann im Mond erwacht. Ein Regelverstoß“. Ammann Verlag, Zürich 2008, 298 Seiten, 22,90 Euro