Bremens Super-Mauer

Mit gehörigem zeitlichem Abstand darf sogar ein taz-Redakteur dem Militarismus frönen. Also: Das jetzt von den Bremer Archäologen entdeckte Stück Stadtmauer ist ein Musterbeispiel für effiziente Verteidigung, ohne die der dortige Dom wohl seit längerem in Schutt und Asche läge. Etwa so wie der in Hamburg

VON HENNING BLEYL

Bremen ist eine Stadt, die mit Stadtmauerwerk nicht gerade gesegnet ist. Sicher: Im Untergrund, da lagert und modert noch manch historischer Stein, aber die erhaltenen oberirdischen Befestigungen sind rar: Ein halber, bis zur Unkenntlichkeit umgebauter Wehrturm, der heute ein ganzjährig geöffnetes Weihnachtsbedarf-Geschäft beherbergt, außerdem ein Restchen, das sich in einem pittoresken Wohnhaus im Schnoor versteckt – das war’s bislang. Jetzt aber hat Bremen ein ordentliches Stück seiner ursprünglich immerhin an die 14 Meter hohen Backsteinmauer zurück, an der sich schon mancher Landsknecht die Zähne ausbiss.

Dieter Bischop vom Archäologischen Landesamt hat sie in einer Baugrube am Rand der Innenstadt entdeckt: „Das war durchaus überraschend“, sagt er, aber derzeit ist ihm das Grabeglück ohnehin hold: Nach einer spektakulären Schiffsfund-Serie auf dem Teerhof – der spätmittelalterlichen Werft der Stadt – hat er kürzlich auch noch eine Reihe ebenfalls mittelalterlicher Brunnen nebst netter Kleinigkeiten wie knöchernen Schlittschuhen in der Nähe des Marktes frei gelegt. Anders gesagt: In Bremens Altstadt-Bereich wird gerade allerlei gebaut.

Bischop und sein kleines Team müssen Gelegenheits-Archäologie betreiben, für planmäßige Forschungsgrabungen fehlen die Mittel. Deswegen bleibt es auch Illusion, das zur jetzt gefundenen Mauer gehörige Fundament des Stadttors eines Tages frei zu legen. „Das muss unter der großen Kreuzung vor der Kunsthalle liegen“, sagt Bischop, „aber man kann ja nicht einfach den Verkehr still legen“. Zumindest nicht für die Wissenschaft.

Dabei hatte das „Ostertor“, das später durch einen 100 Meter weiter auswärts gelegenen klassizistischen Bau ersetzt wurde, offenbar auch einige ästhetische Reize: Auf alten Gemälden sieht man ein aus Backsteinen gemauertes Tor mit einem stufig gestaffelten Giebel, auf einer Postkarte würde es sicher eine ausnehmend gute Figur machen. Doch 1828 demontierte man die oberirdischen Teile, um die Straße entsprechend zu erweitern. Auch ein Blitz trug zum Abbruch bei.

Mit dem jetzt gefundenen, etwa 30 Meter langen Mauerstück wird immerhin die militärische Finesse der gesamten Verteidigungsanlage deutlich: An der im frühen 16. Jahrhundert errichteten Zwischenmauer sollte offenbar scheitern, wer bereits den Stadtgraben überquert und den vorgelagerten Ostertorzwinger unbeschadet passiert hatte: Sie bot Flankenschutz. „Militärtechnisch“, sagt Bischop, „war das damals ziemlich innovativ“.

Nun verfügten auch andere Städte wie etwa Hamburg über ähnliche Fortifikationen, allerdings erreichten sie erst später die strategischen Kniffs der Bremer Anlagen. Und ihren Dom haben die Hamburger ohnehin selbst und ohne feindliches zu Tun in Schutt und Asche gelegt: 1804, nachdem der mittelalterliche Prachtbau zuletzt als Pferdestall gedient hatte.

Zurück zur Bremer Super-Mauer: Sie hat zwar nur zwei Meter Durchmesser, doch als entscheidendes Verbindungsstück zwischen der fünf Meter dicken Mauer des Zwingers und dem Stadttor war sie offenbar ziemlich effektiv: Dass Bremen militärisch nie erobert wurde, soll das Verdienst dieser Steine sein. Durch in Bodenhöhe angebrachte Schlitze – „Hasenscharten“, die in friedlicheren Zeiten Durchschlupf für kleine Nager boten – konnte das unmittelbare Vorfeld der Hauptmauer spitzwinklig unter Beschuss genommen werden. „Wir wussten zunächst nicht, was die Hohlräume neben den Schießscharten zu bedeuten haben“, sagt Bischop. „Ich dachte erst, das sind Schotts, damit die Stadt bei Hochwasser nicht durch die Schießscharten hindurch geflutet wird.“ Doch offenbar waren hier Holzbalken als Widerlager installiert, mit denen man die Rückstöße der Hakenbüchsen auffing.

Was heute relativ banal klingt, war zu Beginn des 16. Jahrhunderts – viele Zeitgenossen ritten da ja noch in Ritterrüstungen durch die Gegend – ein durchaus ausgeklügeltes System. „Man sollte dem Erbauer die Augen ausstechen“, soll Herzog Heinrich von Braunschweig wutentbrannt geflucht haben, nachdem er sich vor Bremen manche Beule zugezogen hatte. Im Schmalkaldischen Krieg (1546/47), im Dreißigjährigen Krieg und in den Schwedenkriegen konnte Bremen seinen Angreifern Paroli bieten – es sind tatsächlich erst die Bomben des Zweiten Weltkrieges, die der historischen Innenstadt den Garaus machen.

Trotz der bremischen Mauer-Knappheit wird der aktuelle Fund vor Ort kaum gewürdigt. Der Investor will das verdiente Gestein nicht in sein künftiges Bürohaus integrieren, er müsste sonst auf acht Parkplätze verzichten. Der oberste Mauermeter wurde bereits abrasiert – das ist der mit den Hasenscharten.

Selbstverständlich ließe sich der wenig nostalgische Umgang mit den Militärrelikten auch als Ausfluss des berühmten Bremer Pazifismus interpretieren. Deswegen sei hier noch kurz die gänzlich anti-pazifistische Lieblings-Ankedote des Autors zitiert: Unmittelbar nachdem Graz als erste europäische Stadt mit aufklärerischem Elan seine Stadtbefestigungen in flanierfreundliche Boulevards umgewandelt hatte, kamen die napoleonischen Truppen. Andererseits beweist das Beispiel der Hamburger, dass man seine Stadt auch ohne Krieg verwüsten kann: Als die Franzosen an die Elbe kamen, war der Dom bereits abgerissen.