radikaler diskurs, schreckgespenster etc.
: In der Scheune des Staatsfeinds

„Tiqqun“ – die Welt verbessern – das hebräische Wort gab den Titel für die philosophische Zeitschrift, die Julien Coupat bis zu ihrer Einstellung geleitet hat. Das Blatt war ein Insidertipp für Anarchisten und Situationistinnen. Jetzt sitzt der 34-Jährige in Untersuchungshaft. Die französische Innenministerin Michèle Alliot-Marie nennt ihn und vier ebenfalls inhaftierte angebliche Komplizen „Ultralinke“. Und die Experten der wichtigen Antiterrorabteilung der Pariser Justiz ermitteln wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung mit terroristischen Zielen“. Die jungen Leute sollen eine „unsichtbare Zelle“ gebildet und „Sabotageakte“ auf Oberleitungen von französischen Hochgeschwindigkeitszügen (TGV) verübt haben. In der Nacht zum Samstag, den 8. November waren an drei französischen TGV-Strecken Betoneisenklammern an den Oberleitungen aufgetaucht. Im schlimmsten Fall drohen den Beschuldigten 20 Jahre Gefängnis.

Das Zentrum der angeblichen Staatsfeinde, die Frankreichs Regierung und Medien gerade entdecken, ist ein idyllischer Ort in der zentralfranzösischen Bergregion Corrèze. In Tarnac haben Coupat und andere junge Leute aus städtischem, wohlhabendem und gebildetem Milieu einen Bauernhof bezogen. Sie betreiben Landwirtschaft, führen einen Lebensmittelladen und haben in ihrem Regal unter anderem Bücher über anarchistische Theorie und Praxis, eine Anleitung zum Verhalten im Falle von Festnahmen sowie Fahrpläne der französischen Bahngesellschaft. Die 150 Polizisten, die am 11. November zu einer Razzia bei den jungen Leute anrücken, verhaften neun Personen und beschlagnahmen die Bücher. In der Scheune des Bauernhofs finden sie zwar landwirtschaftliches Werkzeug. Nicht aber die Betoneisen, nach denen sie suchen. Noch während die Polizeieinsätze gleichzeitig an mehreren Orten Frankreichs laufen, tritt Innenministerin Alliot-Marie vor die Medien, um einen erfolgreichen Schlag gegen die „ultralinke, anarcho-autonome Bewegung“ bekanntzugeben.

Die Inhaftierten, deren „Anführer“ in den ersten 96 Stunden seiner Haft vierzehnmal verhört wird, verweigern die Aussage. Manche Medien, insbesondere der Figaro, der sie umgehend als „Menschen im totalen Bruch mit der Gesellschaft“ identifiziert, sehen in dieser Aussageverweigerung einen Beleg für die Gefährlichkeit der Gruppe. Fingerabdrücke, DNA-Spuren oder anderes belastendes Material hat die Polizei bislang nicht.

In Tarnac bilden Dorfbewohner eine Unterstützungsinitiative. Sie glauben nicht an den Terrorverdacht. An den Versammlungen, die sie mit den Eltern der Inhaftierten organisieren, nehmen bis zu 200 Personen des 350-Seelen-Orts Teil.

Eric Hazan, ein Theoretiker, dessen Buch „Der kommende Aufstand“ auch im Regal der jungen Leute stand, betrachtet den antiterroristischen Großeinsatz gegen die „unsichtbare Zelle“ als Teil der „Konstruktion eines inneren Feindes“. Er ist überzeugt: „Wir erleben die letzten Jahre eines alten Regimes.“DOROTHEA HAHN