Der moderne Mann Moses

Mit ihren Brüchen, Lücken und Paradoxien verschafft die Bibel auch dem modernen Leser Genuss. Was sich sonst noch gewinnen lässt, wenn man sie als Literatur liest, zeigte am Wochenende eine Tagung des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung in Berlin

Wenn keiner mehr zur Messe geht, hört auch niemand mehr die ironischen und verworrenen Geschichten aus der Bibel

VON ULRICH GUTMAIR

Was bliebe von westlicher „Wertegemeinschaft“ und abendländischer Tradition, hätte sie die Bibel nicht? Die vielbeschworene Leitkultur ist wacklig auf den Beinen, wenn ihr Grundlagentext nicht mehr selbstverständliches Objekt der Lektüre ist. Die Bibel wird kaum mehr gelesen, und daran ändert auch die Renaissance des Religiösen nichts, so Daniel Weidner vom Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung. Dort fand am Wochenende der Workshop „Bibel als Literatur“ statt, zu dem sich Theologen und Wissenschaftler vor allem aus Deutschland und der Schweiz einfanden.

Um seine These zu illustrieren, brachte Weidner die Anekdote vom Studenten, der vom Alten Testament hört und prompt fragt, ob es denn auch ein Neues gebe. Weidner verwies schmunzelnd auf Jürgen Habermas, der in seiner Friedenspreisdankesrede eine Bibelstelle mit „Moses 1:27“ zitiert hatte, obwohl ein solches Buch gar nicht existiere. Da aber täuschte sich Weidner selbst. Denn zwar wird in den christlichen Bibelfassungen in deutscher Sprache üblicherweise kein Buch Moses genannt, wohl aber in deutschen Übersetzungen jüdischer Autoren. Dann gibt es nicht nur eines, wie bei Habermas, sondern derer fünf.

An den fünf Büchern des Moses und anderen biblischen Texten schätzt Weidner „Brüche und Wiederholungen, Inkohärenzen und Lücken, abrupte Wechsel von Genres und Unzuverlässigkeit des Erzählens“, also all jene Elemente, die auch die moderne Literatur konstituieren. Doch das, was den heutigen Leser interessiert, hat die deutsche Nachkriegstheologie zu einer bloß philologischen Analyse der alten Texte angestachelt. Sie wollte die unterschiedlichen Quellen sezieren, aus denen die Schrift einst zusammengepastet wurde. Sie hat daher wenig Sinn für die genuin literarischen Qualitäten der Bibel. Schon Goethe hatte despektierlich von der „höchst traurigen, unbegreiflichen Redaktion des Ganzen“ gesprochen.

Im angelsächsischen Raum ist dagegen in den letzten Jahrzehnten eine Fülle von Studien erschienen, in denen die Bibel als Literatur verstanden wird. Einige wesentliche Beiträge dieser Debatte hat Daniel Weidner zusammen mit Hans-Peter Schmidt eben erstmals auf Deutsch in dem Band „Bibel als Literatur“ herausgegeben. Robert Alter ist dort mit seiner Untersuchung der Josefsgeschichte vertreten, die er für eine der besten Geschichten hält, die jemals geschrieben worden sind. Alter zeigt, wie präzise die dort von den biblischen Autoren eingesetzte Komplexität der erzählerischen Mittel den Zweck erfüllt, „der menschlichen Wirklichkeit im grundlegend neuen Licht der monotheistischen Offenbarung einen Sinn zu geben“.

Wie diese Revolution in Textgestalt arbeitet, führt Alters Kollege Meir Sternberg vor, indem er die Rolle des allwissenden Erzählers in der Bibel analysiert. Seinen „unerschütterlichen Wahrheitsanspruch“ kann dieser Erzähler nur postulieren, indem er dem Leser zeigt, wie begrenzt dessen eigenes Wissen bleibt. Dabei kann er beanspruchen, Gott und Menschheit gleichzeitig zu repräsentieren.

Dass der nichttheologische Blick auf die Bibel überaus erhellend sein kann, zeigte auf der Tagung Hans-Peter Schmidt aus Arbaz. Er liest den für das Alte Testament zentralen Bundesvertrag als gelungenen Versuch Gottes, sein Volk durch die Gabe der literarischen Vernunft auf seinen Weg zu führen. Schmidt liefert aber auch eine säkulare Alternative mit, die darin besteht, dass „der altorientalische Mensch seinen Gott zur Unterzeichnung eines Vertrages überlistete, durch den der Gott seine Willkür einbüßte und der Mensch im Rahmen des Gesetzes seine Freiheit zur Selbstgestaltung des irdischen Daseins errang“.

Dennoch gingen die meisten deutschen Bibelübersetzungen weiterhin von der Annahme aus, es komme nicht auf die Form, sondern nur den Inhalt an, glaubt Johannes Anderegg, Literaturwissenschaftler aus St. Gallen. Die Metaphern des Originals würden einer vermeintlich größeren Verständlichkeit geopfert. Als Anderegg aus der Kohelet-Übersetzung für die neue Zürcher Bibel liest, an der er mitgearbeitet hat, wird es still. „Denn der Mensch geht ein in sein ewiges Haus, und durch die Straße ziehen die Klagenden. Bevor der silberne Faden zerreißt und die goldene Schale zerspringt und der Krug an der Quelle zerschellt und das Schöpfrad zerbrochen in die Zisterne fällt und der Staub zurückkehrt zur Erde, wie es gewesen ist, und der Lebensgeist zurückkehrt zu Gott, der ihn gegeben hat.“

Anderegg führt so vor, was sein schweizerischer Kollege Christof Hardmeier postuliert. Er hält die Bibel für Literatur, „die für das laute Vorlesen bestimmt und auf den hörenden Nachvollzug angelegt ist“. Wenn keiner mehr zur Messe geht, hört auch niemand mehr die krassen, ironischen, verworrenen und tröstenden Geschichten aus der Bibel. Der Leser aber hat keine Ahnung mehr davon, was er versäumt, wenn er dieses Leseangebot nicht annimmt. Das war früher anders, als man mit Fontane das Alte Testament noch als großen Sensationsroman begreifen konnte.

Schmidt/Weidner (Hg.): „Bibel als Literatur“. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2008, 352 Seiten, 34,90 €