Wohlfühldrama für Politikverdrossene

Die Landesbühne Niedersachsen Nord zeigt mit dem Drama „Albertz“ im Stadttheater Wilhelmshaven ein Lehrstück über die Korruption durch Politik. Als Blaupause dient Pastor Heinrich Albertz, der wegen des Todes von Benno Ohnesorg vom Posten des Berliner Bürgermeisters zurücktrat

VON JENS FISCHER

So geht es nicht. Muss den Kindern ja immer wieder mal gesagt werden. Nicht einfach draufloshandeln wie Pastor Heinrich Albertz, der in Tine Rahel Völckers „Albertz“-Drama einfach nicht erwachsen werden will, nachdem er 1961 zum Berliner Innensenator, 1963 zum stellvertretenden Bürgermeister ernannt wird. Der Hofpredigersohn aus Breslau will seine Vision, die Berliner Mauer durchlässiger zu machen, möglichst schnell umsetzen, ohne Absprachen mit der Bonner Regierung und seiner SPD. Albertz nimmt direkte politische Verhandlungen mit dem ostdeutschen Regime auf und setzt das erste Passierscheinabkommen für die Weihnachtstage 1963 durch. Eine „Willy Brandt“ genannte Figur raunzt: „Wenn du etwas erzielen willst, so musst du alle mit einbeziehen in deine Arbeit.“ Der Politik-Außenseiter kontert, er wolle „niemanden scheinheilig mit einbeziehen“, sondern durch seine Argumente überzeugen. Brandt: „Das ist eine schöne Anschauung, aber im Moment wenig hilfreich.“

So wird Albertz versuchen, Macht und Moral zu vereinen, mit der Parteipolitik zu kollaborieren, taktierend Einflusssphären zu sichern und Mehrheiten zu basteln – und er wird scheitern. Das hat für Völcker Modellcharakter. Der unaufhaltsame Aufstieg und Fall des Heinrich Albertz steht für die Suche nach der eigenen Identität, hin und her gerissen zwischen Gesellschaftszwängen und eigenen Überzeugungen. Ein politisch und psychologisch spannendes Stück, das als Auftragsproduktion der Landesbühne erneut deren Mut beweist, zeitgenössisches Theater in den Nordwesten Niedersachsens zu bringen.

Als Anregung diente der 29-jährigen Berliner Dramatikerin Völcker das Heinrich Albertz-Porträt von Wolf Vostell aus dem Jahre 1967. Eigentlich erwartet man ja ein geradezu ikonografisches Gemälde, steht Albertz doch für die Leidenschaft seines Engagements. 1967 trat er aus christlichen Motiven vom Amt des Regierenden Bürgermeisters zurück – angesichts des Todes von Benno Ohnesorg durch die Gewalt des Staates. Doch Völcker hat das Parlando der präzis verdichteten Kurzsätze nicht in Archiven und bei Zeitzeugen zusammengeforscht, sondern rein fiktiv komponiert. Völcker zeigt einen Albertz, der sich von der SPD nicht zum Sonntagsredner fürs Menschliche reduzieren lässt, sondern die Partei für die Seiltänze seiner Entspannungspolitik benutzt. Als Wiedervereinigungsprediger wird er zum eifernden Pennäler, behauptet sein hochmoralisch aufgestelltes Ich-Bewusstsein, wird aber Teil des Zwangssystems politischer Abhängigkeiten – und erscheint zunehmend unsympathischer, weil arrogant und höhnisch.

Dieser Albertz spürt, seine Ideen verraten, seine Integrität verloren zu haben. Die Verunsicherung darf er in selbstreflexiven Monologblöcken vorführen. Aus Schuld wird Scham wird Sühnegelüst – und die Verwandlung vom Saulus, der hartes Vorgehen gegen Demonstranten durchsetzt, zum Paulus, dem Studentenunruhen-Versteher.

Schlicht, geradezu lehrstückhaft hat Völcker das Stück konstruiert. Sie stellt im flotten Schnitt-Gegenschnitt-Verfahren ihrem Albertz die SPD-Feinde gegenüber – und zeigt die Verführung durch die Macht. Als steril positive Figuren sind nur zwei Frauen als Einflüsterinnen zu erleben, eine Studentin und Albertz‘ Gattin. Beide sagen stets die Wahrheit und raten das Richtige. So findet man sich prima zurecht in diesem Wohlfühldrama für Politikverdrossene.

Zur Einführung werden im Stadttheater Wilhelmshaven Käsequader mit Weintraubenkrone gereicht – wie in den lustigen Sechzigern. So unbeschwert bringt auch Uraufführungsregisseur Christian Hockenbrink das diskursintensive Stück zum Tanzen, macht mal das Castörfchen, lässt auch hübsch marthalern, degradiert Politnetworking zu Slapstick-Spielen und verhöhnt in Loriot-würdigen Sketchen die Parteimenschen, die dummdreist an ihren Karrierenetzwerken spinnen.

Der Handlungsort wird aus dem Rathaus in eine piefige Kneipe verlegt. Schließlich gibt es in „Albertz“ den Satz: „Mit Biertrinkern und Skatspielern kann man keine Politik und keinen Staat machen. Aber: sie bestimmen die SPD.“ Die Biertrinker-Darsteller kreieren aus den Rollenvorbildern eigene Witzfiguren. Im Zentrum des unterhaltsamen Politkabaretts kann sich Albertz‘ Höllentrip in die Identitätskrise umso würdevoller entfalten.

Und umso mehr bleibt eine einfache Frage unbeantwortet: Was bedeutet es, wenn moralisches und politisches Verhalten keine Schnittmenge haben?

Nächste Aufführungen: 12. 12. Theater am Dannhalm, Jever; 17. 12. Stadttheater Wilhelmshaven; 18. 12. Realschule Norden; 14. 1. Neues Theater Emden