Musikkritiken von Lester Bangs erschienen: Brennende Luft

Die Musikkritiken von Lester Bangs, legendärer Autor des Rockmagazins "Creem" liegen jetzt auf Deutsch vor. Sie zelebrieren unflätig und zärtlich das Außenseitertum im Rock 'n' Roll.

Tragische Verschwendung von Vinyl und Kajal. Bild: ap

Iggy and the Stooges? "Klingen wie die gesamte Schlaflosigkeit des Mittleren Westens." Das Debütalbum von Alice Cooper? "Eine tragische Verschwendung von Vinyl." Die Softpopband Bread "hat das Lauwarme zur Kunstform erhoben", und einen Artikel über den Punkrocker Richard Hell "fängt man am besten damit an, dass man über sich selbst spricht".

So größenwahnsinnig, unflätig und zärtlich zugleich konnte es nur einer formulieren, und das war Lester Bangs. Am Sonntag wäre der amerikanische Popkritiker 60 Jahre alt geworden. Wäre. Denn Lester Bangs ist bereits 1982 einen ziemlich erbärmlichen Rock-n-Roll-Tod gestorben. Jahrzehntelange Abhängigkeit von codeinhaltigem Hustensaft hatte sein Immunsystem zu sehr geschwächt.

Jetzt erst erscheinen von ihm zum ersten Mal Plattenkritiken und Essays in deutscher Übersetzung. "Psychotische Reaktionen und heiße Luft" ist eine Auswahl einiger seiner besten Texte aus Popmagazinen und Zeitungen, im Original 1987 veröffentlicht, also bereits postum. Bangs beobachtete die Popszene der späten Sechziger- und Siebzigerjahre auf Augenhöhe. Nicht für den Hippie-Mainstream und dessen ausuferndes Gedudel schlug sein Herz, immer schön antizyklisch favorisierte er schon im "Summer of Love" 1967 das konzeptionelle Peitschenschwingen von Velvet Underground und etwas später den proletarischen Hardrock von Black Sabbath, "die John Miltons des Rock 'n' Roll". Auch Punkrock in New York hieß er, anders als seine amerikanischen Kollegen, sehr zeitig willkommen.

Als er 1968 mit dem Veröffentlichen von Plattenkritiken begann, gab es weder Promotionsabteilungen in der Musikindustrie, geschweige denn kritischen Popjournalismus. Lester Bangs stammte aus der White-Trash-Suburbia Südkaliforniens. Die Mutter war eine glühende Zeugin Jehovas, der Vater, ein Quartalssäufer, schlief mit einer brennenden Zigarette ein und starb, als Lester neun Jahre alt war. Sein Neffe, der als Stuntman in Hollywood arbeitete, brachte Lester Drehbücher mit, die dieser umschrieb und zu fantastischen Geschichten ausbaute.

Als Elfjähriger wurde Lester Bangs von einem Mann missbraucht, der ihn mit Comics in einen Wohnwagen gelockt hatte. Die Superhelden aus den Bildergeschichten halfen Lester zu überleben. Dann wurden die Jazzmusiker und Beatpoeten der Fünfzigerjahre, die ihr Außenseitertum mit totaler Hingabe zelebrierten, zu seinen Helden. "Wonach ich suche, ist Leidenschaft", sagte Bangs in einem Interview 1980, "egal in welcher Form. Ich suche nach eigenwilligen Ideen, Meinungen oder Weltanschauungen."

Als Bangs in den Siebzigern für das Rockmagazin Creem arbeitete, wurden er und seine Kollegen vom FBI beschattet. Die Agenten vermuteten, das Magazin sei Anlaufstelle für die "Weathermen", hörten Redaktionstelefone ab, glotzten mit Feldstechern in die Privatgemächer und durchforsteten systematisch den Abonnentenstamm. Bangs und die anderen wurden als "nicht zuverlässig" eingestuft.

Als Autor blieb Lester Bangs zeitlebens unberechenbar. Er schrieb regelmäßig für Rolling Stone, Creem, die Village Voice und die Los Angeles Times, hinterließ aber auch Berge von unfertigem Material, circa 200 Seiten über die Beatles, angefangene Biografien über Brian Eno und Lydia Lunch, aber auch Kurzgeschichten und Romane.

Der Herausgeber von "Psychotische Reaktionen", Greil Marcus, selbst anerkannter Musikjournalist und Buchautor, wirbt im Vorwort, die Lektüre von Bangs würde all jene Menschen bereichern, die ihr Leben individuell gestalten möchten, und bedauert einige Absätze später, "der beste Schriftsteller Amerikas" habe praktisch nichts hinterlassen außer Plattenkritiken. Das klingt etwas missverständlich, denn Lester Bangs verstand Rock n Roll als Literatur, er lebte danach, schrieb so besessen Texte, wie andere Songs schreiben und ging auch daran zugrunde. Dass nun endlich etwas von ihm in deutscher Übersetzung erscheint, ist lobenswert. Es hätte aber nicht geschadet, das Buch etwas strenger zu lektorieren. Die ungenaue Übersetzung sorgt an mehreren Stellen für Verwirrung.

Lester Bangs: "Psychotische Reaktionen und heiße Luft". Hrsg. von Greil Marcus. Edition Tiamat, 2008. 400 Seiten, 19,80 €

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.