Filmkritik "Ein Geheimnis": Die Kindheit des Therapeuten

Mit schönsten Farben taucht Claude Millers neuer Film in die Vergangenheit des kleinen François ein, die es so wahrscheinlich nie gab: Frankreich vor dem Krieg.

Bald wird klar, dass hinter den Wunschbildern Schrecken lauern. Bild: arsenal

"Ein Geheimnis" beginnt mit Szenen aus dem Jahr 1955. Selten sah man auf der Leinwand die Nachkriegsjahre so glamourös illustriert: Es herrscht ein prachtvoller Sommer; grün leuchtet der Rasen und blau das Wasser in jenem Sportclub, in dem der kleine François Schwimmübungen macht. Seine Mutter (mit atemberaubender Perfektion von Cécile de France gespielt) ragt als blonde Schönheit im schicken schwarzen Badeanzug selbst in dieser Umgebung des Körperkults hervor.

Fast glaubt man sich in eine Fantasiewelt versetzt, in der der Traum vom "neuen Menschen" gesiegt hat. Und gleich schon möchte man diesen Gedanken wegdrängen, scheint er doch geradezu obszön in einem Film, der sich im Kern um das Schicksal französischer Juden unter deutscher Besatzung dreht. Außerdem ist da der kleine schmächtige François, dem allzu schnell kalt wird und der auch sonst nicht in diese Welt der schönen und sportlichen Körper zu passen scheint. Sein erwachsen gewordenes Ich erzählt aus dem Off und lässt zwischen den Zeilen erkennen, dass wir uns nicht ganz im realen Frankreich der 50er Jahre befinden, sondern in einem subjektiv erinnerten.

Das vorherrschende Thema in François Erinnerungen ist sein Gefühl des Ungenügens, das er vor allem gegenüber seinem Vater (Patrick Bruel) empfindet, der sich für seine Sportbegeisterung eine Art kleine Turnhalle im Haus eingerichtet hat. François glaubt, dessen größte Enttäuschung zu sein. Seine Erinnerungen handeln von unruhigen Nächten und einem ständigen Geplagtsein von Schuldgefühlen, für die der kleine Junge keine Erklärung weiß.

Noch besteht das Leben für ihn aus Einzelereignissen wie seiner Taufe, für die er eigentlich etwas alt ist. Er hört, wie der Vater darauf besteht, dass der Name "Grimbert" mit einem "m" und einem "t" geschrieben wird. Er nimmt den Blick wahr, den seine Eltern austauschen, als er den jüdisch klingenden Nachnamen einer Spielkameradin erwähnt. Er registriert die Erschütterung, die ein auf dem Dachboden gefundenes Spielzeug bei seiner Mutter auslöst.

Und um sich zu entlasten von der Wucht all dieser ungeklärten Gefühle, legt sich François einen älteren Fantasiebruder zu, einen, der ihm in jeder Hinsicht, vor allem aber körperlich, überlegen ist. Es dauert noch ein paar Jahre, bis er zu seinem Erstaunen und Erschrecken herausfindet, dass es diesen älteren Bruder tatsächlich gab - und seine Erfindung vielleicht weniger das Resultat seiner kindlichen Wünsche war als vielmehr eine aus den seltsamen Blicken und dem Schweigen seiner Eltern geborene Ahnung.

Zwischen vier Epochen springt der französische Regiealtmeister Claude Miller in seiner Verfilmung des gleichnamigen, autobiografisch gefärbten Bestsellers von Philippe Grimbert hin und her. Ausgangspunkt der Erzählung sind die verherrlichten 50er, die François und seine Eltern als Teil eines Familienzusammenhangs zeigen, in dem über die Erfahrungen der Kriegsjahre und die damals Umgekommenen nie geredet wird, in der man tatsächlich in Kauf nimmt, dass die Ermordeten noch einmal ausgelöscht werden durch ein Verschweigen aus Scham und Rücksicht für die Nachgeborenen. In den frühen 60ern, schon in weniger strahlenden Farben gezeichnet, führt ein Schulerlebnis von François schließlich dazu, dass ihm eine alte Tante (Julie Depardieu) die komplizierte Geschichte seiner Eltern erzählt, die in den 30er und 40er Jahren spielt. Auch diese Zeit zeichnet Miller so farbig und schön wie aus einer Erinnerung, die das Schreckliche, das sich ankündigte und dann passierte, nicht wahrhaben will. In schwarzweißer Videoästhetik filmt er dagegen die Gegenwart ab, in der der erwachsene François (nun gespielt von Mathieu Amalric) als Therapeut arbeitet und sein Vater den von ihm verschuldeten Tod eines Hundes nicht verwinden kann.

Das eine Geheimnis, das der Titel verspricht, entpuppt sich am Ende als ganze Kette von Geheimnissen, an deren Ende doch keine "Aufklärung" steht, sondern allenfalls ein Einblick in die vielen Motive, die Schweigen haben kann. In seinem Bestehen auf die Subjektivität der Erinnerung führt Miller vor, wie angreifbar diese sind, mit ihren innewohnenden Verschachtelungen des Verleugnens, nicht nur von Schuld, auch von Ohnmacht, von solcher gegenüber einem Regime genauso wie gegenüber eigenen Gefühlen.

"Ein Geheimnis", Regie: Claude Miller. Mit Cécile de France, Patrick Bruel, Ludivine Sagnier u. a., Frankreich 2007, 100 Min.

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