Blumen aufs Haar

Thorsten Trimpops Dokumentartheaterstück über 1968 hatte in den Sophiensælen Berlin-Premiere

„68/89 – Kunst. Zeit. Geschichte. Alles wird anders. Eine utopische Erinnerung.“ Der sperrige Titel, den Thorsten Trimpop seinem Dokumentartheaterstück über 1968 gegeben hat, erinnert an den im Zusammenhang mit 1968 immer gern zitierten Aufsatz Walter Benjamins vom Engel der Geschichte, der mit dem Rücken zur Zukunft durch die Zeit geblasen wird und dabei immer auf die Niederlagen der Vergangenheit starren muss.

Die Produktion der Hamburger Kampnagel-Fabrik feierte am Dienstag in den Sophiensælen ihre Berliner Premiere. Viele Menschen waren gekommen. Man erörterte schwierige Fragen. „Was wäre geschehen, wenn 68 ausgefallen wäre?“ – „Dann wäre nach 67 eben 69 gekommen.“ Auf der Bühne sind: ein Treppchen zum Hinsetzen, ein Klavier, drei große Screens, auf denen anfangs schnell geschnittene Bilder eines Tagebuchfilms von Jonas Mekas zu sehen sind. Drei Zeitzeugen stellen ihre Erinnerungen gegen- und nebeneinander. Die 1949 geborenen Zwillinge Gisela Getty und Jutta Winkelmann, die in die KPD eintreten beziehungsweise versuchen, Lehrlinge für die Sache der Revolution zu gewinnen, Anfang der 70er-Jahre in Rom ihren Sommer der Liebe erleben, Stars wie Bob Dylan, Dennis Hopper, kennen- und lieben lernen. Gisela heiratete den hippieesken Paul Getty, den Enkel des damals reichsten Mannes der Welt. Sie experimentierten mit Drogen und versuchten, die Welt durch Liebe zu verbessern.

Gegenpart der beiden ist der 1945 geborene Tscheche Václav Trojan, ein Naturwissenschaftler und ehemaliger Dissident, der in Prag als Informatiker arbeitet.

Die Zwillinge betreiben sozusagen identifikatorisches Re-enactment. Legen „Like A Rolling Stone“ und „Forever young“ auf, singen mit, wiegen nostalgietrunken ihre Köpfe dabei. Václav Trojan summt mit; klimpert auf dem Klavier oder streut – im schönsten Bild des Abends – den beiden tanzenden Zwillingen Blumen aufs Haar.

Irgendwann habe sie ihrem strengen Vater erwidert: „Von dir lass ich mir nichts sagen – ihr habt sechs Millionen Juden umgebracht“, sagt einer der Zwillingen. Manchmal irritiert die Distanzlosigkeit, mit der die jugendlich wirkenden 59-Jährigen von mystischen Trips oder der Begegnung mit Bob Dylan erzählen. Man hat das Gefühl, sie würden dabei seit 35 Jahren die gleichen Worte benutzen und in der Vergangenheit feststecken.

Die Geschichten von Václav Trojan, der im Prager Frühling aktiv war, klingen reflektierter. Die Repressionen in der ČSSR waren handfester. Trojan erzählt auch weniger von sich als von seinem Freund Ivan Hartl, einem ehemaligen Nuklearphysiker und Studentenführer, der nach dem Prager Frühling ins Londoner Exil ging. Irgendwann vernichtete der langhaarige Künstler und Hausbesetzer all seine persönlichen Dokumente und begann, Dinge zu sammeln, denen er dabei zusieht, wie sie Staub ansetzen. Man sieht Videos von Hartls völlig zugemüllter Wohnung.

Er beobachtet die Welt durch Kameraobjektive, ohne die Filme, die er macht, anzugucken oder zu zeigen. „Seine Kunst besteht in der Sammlung von Zeit“, sagt Trojan und spricht über den Unterschied von menschlichem und maschinellem Gedächtnis. Das Computergedächtnis sammelt alles; die Kunst des menschlichen Gedächtnisses dagegen bestehe im Vergessen. Ein wenig mehr Vergessen würde dem 68er-Gedächtnis vielleicht auch guttun, denkt man manchmal.

DETLEF KUHLBRODT

„68/89 – Kunst. Zeit. Geschichte. Alles wird anders. Eine utopische Erinnerung“: Sophiensæle, heute 20 Uhr