Über Langenhorn

In Langenhorn, einem Stadtteil in Hamburgs Norden, lebt seit 1962 das Ehepaar Schmidt – den Gerüchten nach in einem „Reihenendhaus“. Eine Ortsbegehung zum 90. Geburtstag des Altbundeskanzlers

Vermutlich ist Schmidts Blick auf Langenhorn einer aus dem Autofenster. In Langenhorn lebt man nicht, man wohnt dort

VON DANIEL WIESE

Es ist nicht anzunehmen, dass Helmut Schmidt jetzt noch mit der U-Bahn fährt. Womöglich ist er überhaupt nie mit der U-Bahn in den Hamburger Vorort gefahren, in den er 1962 gezogen sein soll, als er noch Hamburger Innensenator war. Seine Adresse wird mittlerweile bereitwillig überall gestreut. Das Leben eines Ex-Bundeskanzlers ist eben nie nur privat, auch wenn Helmut Schmidt der Letzte ist, dem das gefallen dürfte.

Würde Helmut Schmidt noch einmal mit der U-Bahn nach Hamburg-Langenhorn fahren, würde er vielleicht in „Langenhorn Markt“ aussteigen. Es ist ein schöner alter U-Bahnhof, mit Neon-Stabröhren, die von der Decke hängen. „Entschuldigen Sie, wo ist das Zentrum von Langenhorn?“ – „Na hier!“, der Passant weist auf den kleinen runden Platz vor dem U-Bahnhof. Es gibt eine Grillbude und einen Edeka-Supermarkt, weiter die Straße runter leuchten Kneipenschilder. „Und wo geht man von hier hin?“ – „Da runter“, sagt der Passant und zeigt auf einen Fußgängertunnel, der unter einer mehrspurigen Straße durchführt.

Dort, auf der anderen Seite, ist das neue Zentrum von Langenhorn. Das Entrée bildet ein flacher Hertie-Bau der Sorte, die eigentlich schon ausrangiert worden ist, gebaut aus grauen Riffelbeton. Dahinter erstreckt sich ein weiträumiger Marktplatz, auf dem sich die wenigen Passanten verlieren, und noch weiter hinten ragt das neue Shopping-Center empor. Unter der überdachten Passage findet der Weihnachtsmarkt von Langenhorn statt, es gibt ein Walt-Disney-Kinderkarussell und eine Weihnachtsmann-Statue aus Plastik. Müde Glühweinverkäufer starren ins Leere, die Stehtische sind schwach besucht.

Würde man hier, im Zentrum von Langenhorn, eine Kamera installieren und vorlaufen lassen, würde man sehen, wie sich die Passage nach Feierabend etwas füllt. Das Walt-Dinsey-Karussel wäre nicht mehr leer, ein paar Kinder würden sich darauf verteilen, auf einer Bank säße eine ältere Frau, im schicken Wintermantel, neben sich eine Einkaufstasche. Auf dem Marktplatz würde ein Mann in Zirkusuniform mit einem Pony auftauchen, einige Kinder würden Geldstücke in seinen Hut werden. Es wäre ein kurzes Aufflackern, bevor die Leere wieder zurückkehrte, auch der Mann mit dem Pony würde verschwinden. „Ich mach jetzt auch Feierabend“, sagt er und versucht zu lachen.

Das Zentrum von Langenhorn wirkt, als hätte es ein Riese gewaltsam in die Siedlung hineingefräst, und damit es noch etwas brutaler aussieht, hat er an die Ecken Parkhaustürme gesetzt aus einem Beton, der schon wieder Risse bekommt, obwohl die Parkhäuser noch gar nicht alt sind. Nein, das Zentrum von Langenhorn ist nicht Langenhorn, auch wenn direkt hinter dem Hertie die Schule liegt, an der Loki Schmidt unterrichtete, bis Helmut 1974 Bundeskanzler wurde.

Langenhorn ist, wo das Zentrum nicht ist. Gäbe es den Stadtteil nicht schon, und man wollte ihn erfinden, so müsste man den Traum vom Reihenhaus träumen. Ganz Langenhorn ist voll von Reihenhaussiedlungen, die ersten stammen aus den 1920er Jahren. Es sind bescheidene Reihenhäuser, sie sind niedrig und eng. Die Chancen stehen gut, dass sie solide durchfinanziert sind, dass sich keiner ihrer Bewohner in Schulden gestürzt hat oder über seine Verhältnisse lebt.

Würden die Schmidts mit der U-Bahn fahren, müsste man ihnen empfehlen, sich Langenhorn-Markt zu schenken und eine Station später auszusteigen, in Langenhorn-Nord. Dort geht es rechts zu der Gartensiedlung, die der Stadtbaudirektor Fritz Schumacher vor „der großen Scheiße des Krieges“ (Schmidt) für einige Tausend Arbeiter entlang der Tangstedter Landstraße baute. Über den Gärten liegt winterliche Ruhe, einige blasse Deutschland-Fahnen wehen im Wind, ein Mann führt seinen Hund aus.

In der Nazizeit war die Gartensiedlung an der Tangstedter Landstraße eine „Keimzelle“ des Widerstands. Doch Schmidt, der ehemalige Wehrmachtsoffizier, der sich nie als Widerstandsheld ausgab, wohnt nicht rechts vom U-Bahnhof, sondern links. Es geht vorbei an einem kleinen halbrunden Platz, der womöglich extra für die Schmidts noch im Originalzustand der 1960er Jahre erhalten worden ist, mit runden Bogenlampen und eingeschossigen, vorgelagerten Geschäften, bloß dass der Friseur jetzt „Magic Hair“ heißt, und so etwas wie eine „Brasserie“ hätte es früher auch nicht gegeben. An der Ecke könnten die Schmidts, wenn Bedarf wäre, in der Kneipe „Zur Mausefalle“ einkehren. Doch der Bedarf besteht vermutlich nicht, für diese Zwecke hat Helmut Schmidt seine Hausbar im Keller, angeblich entgegen erster Bedenken von Ehefrau und Tochter.

Hinter der „Mausefalle“ hört die Bebauung auf und damit auch die Stadt. Die Straßen sind nicht asphaltiert und tragen Namen wie „Weg 396“, vor einem Vereinsheim wird Bier entladen, ein Mann im blauen Anorak startet seinen Motorroller durch. Ein Bach taucht auf, dann sogar ein kleiner See, Gartenhäuschen hinter Zäunen, in der Ferne geht eine alte Frau in Richtung der Straße, in der die Schmidts wohnen. Die alte Frau trägt einen eleganten Damenhut, mit einer Hand stützt sie sich auf einen Stock, mit der anderen hat sie sich bei einer Begleiterin eingehängt, die jünger ist als sie. Loki Schmidt soll das Haus nur noch mit Gehwagen verlassen, erzählt man, doch einen Stock besitzt sie auch, es gibt Bilder, auf denen sie und Helmut nebeneinander sitzen, mit identischen, geschnitzten Stöcken.

In der Straße der Schmidts, die alte Frau ist wie vom Erdboden verschluckt, gibt es eine Bäckerei mit Café. Nein, sagt die Verkäuferin, die Schmidts habe sie noch nie gesehen, „das kann aber daran liegen, dass ich meistens die Spätschicht habe“. Außerdem, fügt sie hinzu, würde sie Helmut Schmidt vielleicht gar nicht erkennen. „Ich bin nicht so politisch.“

Etwas weiter runter in der Straße der Schmidts stehen Häuser, die an den Schwarzwald erinnern. Womöglich haben hier einige der Schwarzwälder Uhrmacher gewohnt, die in den 1930er Jahren nach Langenhorn kamen, um für die „Hanseatischen Kettenwerke“ Granatenzünder zu produzieren. In der kriegswichtigen Produktion wurden später auch Zwangsarbeiter beschäftigt. Gegenüber der Straßenseite, auf der die Schmidts wohnen, liegt, nur durch ein kleines Wäldchen getrennt, die ehemalige „Landesirrenanstalt“ Ochsenzoll, einer der Schauplätze des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms.

Vom jetzigen Krankenhaus Ochsenzoll sehen die Schmidts allerhöchstens einen Schornstein. Ihr Haus liegt etwas von der Straße zurück, es ist kein Reihenhaus und auch kein Reihenendhaus, nur die Schmidt’sche Garage schließt an die benachbarte Häuserzeile an, die mit ihren niedrigen Fenstern geduckt wirkt. Vor dem Haus der Schmidts steht ein Verkehrsschild: „Parkverbot auf dem Seitenstreifen“, darunter: „Einsatzfahrzeuge der Polizei frei“. In der Garage gibt es ein Fenster mit Jalousien davor, dahinter brennt Licht. Bei dem Versuch, das Haus der Schmidts zu fotografieren, tritt ein Uniformierter aus der Garage und telefoniert.

So leben die Schmidts mitten in Langenhorn und doch meilenweit von Langenhorn entfernt. In einer NDR-Reportage zu Schmidts Geburtstag sind die Nachbarn befragt worden, die meisten hatten das Ehepaar noch nie gesehen. Nur ein Nachbar erzählte Anekdoten, die allerdings etwas zurücklagen und etwa davon handelten, wie einmal Präsident Breschnjew bei Kanzler Schmidt zu Besuch war und die Straße abgesperrt wurde.

Vermutlich ist Schmidts Blick auf Langenhorn einer aus dem Autofenster, und genau deswegen ist Langenhorn ideal. In Langenhorn lebt man nicht, man wohnt dort. Und zum Flughafen ist es auch nicht weit.