Ende der Voodoo-Ökonomie

Obama gewählt, Kapitalismus hin, Haider tot. Das Jahr 2008 markiert das Ende der Welt, die wir bisher kannten. Wie der Crash der Märkte und der Sieg der Demokratie zusammenhängen

VON ROBERT MISIK

Die Welt, wie wir sie bisher kannten, ging am 15. September 2008 unter. An diesem Tag meldete das New Yorker Investmenthaus Lehman Brothers Insolvenz an. Hektische Rettungsversuche waren gescheitert, die US-Regierung von George W. Bush ließ die Bank tatsächlich kollabieren. Im Unterschied zum Investmenthaus Bear Stearns, das noch im Frühjahr aufgefangen wurde, hatten US-Finanzminister Henry Paulson und Notenbankpräsident Ben Bernanke entschieden, dass Lehman nicht „too big to fail“ sei. Sprich: Ein Lehman-Kollaps würde keine Kernschmelze des Systems auslösen.

Kleiner Irrtum. Der Lehman-Kollaps führte zu einem Infarkt des globalen Finanzsystems, ein Total-Exit konnte nur durch das Eingreifen „des Staates“ (philosophisch im Singular, technisch im Plural) verhindert werden.

Unter all den atemberaubenden Erstaunlichkeiten dieses Geschehens ist eine kleine, sprechende Episode bisher kaum wahrgenommen worden: Es ist nämlich gut möglich, dass Lehman deshalb untergegangen ist, weil die Bank sich noch relativ verantwortungsbewusst verhalten hat. Das Management hat über Monate verzweifelt versucht, Risikopositionen abzubauen, so dass es am Ende geopfert werden konnte – während Bear Stearns seine Risiken „vielleicht sogar bewusst genau so gestaltet hatte, dass ihr Scheitern den maximalen Impact auf das Finanzsystem hatte und eine staatliche Rettung somit unausweichlich blieb“, wie der Wirtschaftsjournalist Rainer Sommer in seinem Buch „Die Subprime-Krise und ihre Folgen“ schrieb.

Absurde, verkehrte Welt des zeitgenössischen Kapitalismus: Wer seine Verschuldung weitblickend so konstruiert, dass er die gesamte Welt mit ins Loch ziehen würde, dem kann eigentlich nichts mehr passieren. Der vielbeschriebene „Moral Hazard“ besteht somit nicht nur darin, dass Unternehmen gerettet werden, wenn sie „too big to fail“ sind, sondern dass sie bewusst und aggressiv versuchen, überhaupt erst „too big to fail“ zu werden. Auch eine Form von „Selbstverantwortung“ des unternehmerischen Individuums. Einen ironischen Kommentar zum Begriff „Risikogesellschaft“ hat das Slavoj Žižek genannt.

Too big to fail

Am Tag nach dem Lehman-Kollaps drohte das globale Finanzsystem in einem grandiosen Dominoeffekt zu implodieren. Lehman war doch „too big to fail“. Vielleicht nicht einmal technisch – ökonomisch wäre der Untergang dieses einen Finanzhauses verkraftbar gewesen. Aber der Vertrauensverlust und die Panik, die er auslöste, war es nicht. Ist das das Ende einer Epoche, so, wie Mauerfall und Öffnung des Eisernen Vorhangs vor knapp zwanzig Jahren ein Ende und damit einen Anfang markierten? Ja, auch wenn man nicht genau weiß, was endet und was beginnt. Der liberale Kapitalismus wird nicht untergehen. Dass der beschleunigte globale „Turbokapitalismus“ wieder durch das Nachkriegsarrangement ersetzt wird, mit seinem starken öffentlichen Sektor, hohen Zöllen, seinen Staatsmonopolen, die bestimmten, wie viel ein Telefonat, eine Flugreise und ein Kilo Zement kosten, glaubt niemand. Aber es ist mal als Erstes eine Ideologie gescheitert. Die Ideologie, dass ein auf „gierdynamischen Grundentscheidungen“ (Peter Sloterdijk) basierendes System dann am effektivsten prozessiert, wenn man die Akteure nur ungehindert ihren Eigennutz verfolgen lässt. Und es ist eine Architektur zusammengestürzt aus ihrer inneren Bewegungsdynamik. Man kann sagen: Ein Infarkt, der aus dem Erfolg des Systems resultierte. Zusammenbrüche sind freilich nur in einem metaphorischen Sinn „ein Beginn“. Denn nach Zusammenbrüchen sitzt man zunächst einmal in Trümmern.

Es ist eine stetige narzisstische Kränkung für das vernünftige Subjekt, dass der Eigensinn eines Systems bedeutendere Implikationen für die Weltläufe hat als das bewusste Handeln der Individuen. Aber so ist es, kühl betrachtet, und das erweist sich auch am zweiten großen Geschehen dieses Jahres: der Wahl Barack Obamas zum US-Präsidenten. Gewiss, Obama ist ein Ausnahmepolitiker, wie es ihn in jeder Generation höchstens einmal gibt. Erinnern wir uns nur für einen Moment daran, dass er vor zwei Jahren der Hälfte der Amerikaner noch buchstäblich unbekannt war – nur jeder Zweite hatte von ihm bis dahin gehört. „Er traf die amerikanische politische Szene wie ein Donnerschlag“, resümierte gerade wieder das US-Magazin Time. Die Wahl des schwarzen Demokraten aus Illinois hätte auch unter normalen Bedingungen einen epochemachenden Kontrapunkt zur Präsidentschaft George W. Bushs und zu den Jahren neokonservativer Dominanz gesetzt. Aber seine eigentliche Signifikanz gewinnt Obamas Amtsantritt am 20. Januar erst durch die Krise. Zunächst sicherte sie ihm den Sieg: der Tag, an dem Lehman Brothers unterging, zerstörte auch die letzten Hoffnungen von John McCain, das Ruder doch noch herumzureißen. Dass aber die Grundlagen unserer bisherigen Welt untergingen, gibt Obama die Chance, ein großer Präsident zu werden. Das wird man nämlich nie aus sich allein heraus – dazu wird man durch die Umstände gemacht.

Wer weiß, ob sich Obama unter den Bedingungen von „Normalität“ nicht in Kleinigkeiten verstrickt hätte. Wenn alles wie gewohnt läuft, ist schon eine Umschichtung im Bundesbudget von zwanzig, dreißig Milliarden Dollar – etwa, um ein allgemeines Gesundheitssystem aufzubauen – eine Herkulesaufgabe, bei der das Scheitern realistischer ist als das Gelingen. Das Normale hat, solange es funktioniert, ein erdrückendes Gewicht. Die Krise ist deshalb eine Chance, weil man ohnehin nicht mehr aus Gewohnheit beim schlechten Alten bleiben kann.

Sie ist auch eine Chance für die Demokratie, weil der „Verdruss“ an der Politik unter anderem ein Resultat der Langeweile angesichts des Normalen war. Wenn normale Politiker das Gewohnte verwalten, steigen die schrägen Typen auf, die wenigstens für ein bisschen Spaß und Krach im faden Betrieb sorgen – die Exzentriker vom Schlage Jörg Haiders. Dass der gerade in diesem Herbst, die letzte Chance auf eine Schlagzeile wahrnehmend, mit 1,8 Promille im Blut Klagenfurts Schwulenkneipe „Der Stadtkrämer“ verließ, sich in seinen VW Phaeton setzte und mit 142 km/h gegen einen Betonpfeiler krachte, ist insofern eine richtig schöne Koinzidenz dieser Geschichte. Einer von gestern, der einen starken Abgang macht, bevor die neue Zeit beginnt. Na, wenigstens war es keine Karre aus Detroit.

Politische Ökonomie 2.0

Aber weiter im Text: Es gibt eine Dialektik von subjektlosem Prozess und subjektivem Handeln. Denn wenngleich kein Subjekt je eine solche Zäsur bewusst und absichtsvoll herstellen hätte können, so macht diese eben gerade das subjektive Handeln wieder möglich. „Regierungen kann man abwählen, McKinsey nicht“, hieß es noch vor wenigen Monaten. Damit war gemeint, dass sich die Verfassung der globalen – und damit natürlich auch der nationalen – Ökonomie mehr und mehr dem demokratischen Prozess entzog. Viele ökonomische Entscheidungen globaler Unternehmen konnten von politischen Maßnahmen kaum mehr erreicht werden – und wo die Politik es doch versuchte, drohten „die Märkte“ mit Strafe. Das ist jetzt schon Vergangenheit. Denn auch wenn wir es noch gar nicht richtig realisiert haben, gibt es nun wieder eine demokratische Debatte über wirtschaftspolitische Fragen. Ob es staatliche Stimulusprogramme geben soll und wenn ja, welchen Zuschnitts; welches die Vorteile öffentlicher Investitionstätigkeit und welches die Vorteile von Steuersenkungen zur Förderung der privaten Nachfrage sind; welche nachhaltigen Zukunftsinvestitionen mit staatlichen Konjunkturprogrammen realisiert werden sollen – all das ist plötzlich wieder Gegenstand des politischen Diskurses. Das ist, nebenbei gesagt, auch eine Herausforderung des Journalismus: Auf den Wirtschaftsseiten hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine Jargonlastigkeit eingeschlichen, die sich kein geisteswissenschaftliches Feuilleton leisten könnte. Börsenreporte pflegen eine hermetische Geheimsprache und die Übersetzerfunktion der Publizistik wurde systematisch vernachlässigt.

Dennoch war die makroökonomische Debatte schon lange nicht so leidenschaftlich wie heute. Endlos ist die Liste der Fragen: Verdrängen staatliche Infrastrukturinvestitionen private Investitionen? Kann die Stimulierung des Konsums die Konjunktur stützen? Hat nicht der Konsum auf Pump in den USA die Kreditaufblähung und damit den Bubble erst provoziert? Welche Multiplikatorwirkungen haben öffentliche Bauinvestitionen und welches sind deren Grenzen angesichts der Tatsache, dass sich eine Rezession ja gerade durch den Einbruch der Investitionen der Firmen in Anlagegüter wie Maschinen, Fabriken etc. auszeichnet – worauf die Baukonjunktur wenig Einfluss hat? Was, wenn ein massiver Anstieg der Staatsausgaben heute zu Hyperinflation morgen führt? Und welche Regulierungen braucht das globale Finanzsystem – etwa eine internationale Institution, die bestimmte Finanzinstrumente genehmigen muss?

Bis zum 15. September 2008 galt, dass diese Fragen „die Märkte“ klären und dass sie die Regierungen im Grunde nichts angehen. Seit dem Tag X liegen sie wieder im Entscheidungshorizont des demokratischen Prozesses. Wie sehr der Untergang der Marktideologie und die Abwahl der Anti-Regierungs-Philosophie der US-Neokonservativen zusammenhängen, darauf hat noch einmal Paul Krugman hingewiesen. Denn für den Konservativismus ist noch eine so miserable Regierung wie die von George W. Bush ein „Erfolg“ – als Beweis dafür, dass von Regierungen eben nichts Sinnvolles zu erwarten ist.

Er möchte, sagte Barack Obama, „dass die Regierung wieder cool wird“. Das ist die große Wende dieses Jahres.