Hinterm Fenster

Eine beeindruckend souveräne Neubelebung der Naturlyrik: Nico Bleutges Gedichtband „fallstreifen“

VON ANDREAS WIRTHENSOHN

„wind, /der die baumflächen angeht, die äste / in bewegung bringt, fest an den stamm / zurück mit wirbelnden Blättern“. Ein Gespräch über Bäume? Und das in Zeiten von Klimawandel, globaler Finanzkrise und islamistischem Terror! Fast ein Verbrechen.

Zugegeben: Wer heute Naturlyrik schreibt, wird vielleicht nicht mehr ganz so scheel angesehen wie noch in den Sechziger- und Siebzigerjahren. Doch die „Bewisperer von Gräsern und Nüssen und Fliegen“, wie der großstadterprobte, in Weinhäusern statt Weinbergen heimische Gottfried Benn seine Kollegen von der Abteilung Naturpoesie abschätzig nannte, gelten noch immer als eine etwas befremdliche, eskapistische Spezies. Und nicht einmal mehr das Etikett „Ökolyrik“ kann sie aus ihrer Randständigkeit ins Zentrum der politischen Tagesaktualität bugsieren.

Zum Glück ist der 1972 geborene, in Tübingen lebende Nico Bleutge mit allerlei poetischen Wassern gewaschen. Zum einen lebt seine Lyrik, die nicht nur Natur zum Thema hat, aber bemerkenswert menschenleer ist, von der Versiertheit im mündlichen Vortrag, was ihm unter anderem 2001 den Sieg beim Open Mike in Berlin eingebracht hat. Wer sich die Mühe macht, die Gedichte laut zu lesen – was für diese Gattung eigentlich generell zu empfehlen ist –, merkt schnell, mit welch unglaublicher Präzision und Raffinesse sie rhythmisiert sind: „diesiger Mittag, die krähe / schwingt sich vom dach / ihr gezogener anflug / bindet die flächen der luft, nur / verzögert die landung / das haarfeine rucken / des blicks / hinterm fenster“. Das beginnt ganz statisch, „diesig“ und träge, schwingt sich dann daktylisch vors Auge des Betrachters, verharrt im längsten Vers unmittelbar vor der Landung, ein kurzes Stocken durch das Enjambement zwischen „nur“ und „verzögert“, ehe das „rucken“ des Kopfes in den kürzesten Vers mündet, in dem sich das Auge der Krähe und das des Betrachters begegnen. Der Schlussvers trennt die beiden dann wieder in ein „vor“ und ein „hinter dem Fenster“, und das Bild kommt sanft ausschwingend zur Ruhe.

Zum Zweiten ist Nico Bleutge trotz seiner noch jungen Jahre das, was man als Poeta doctus bezeichnen könnte. Er kennt sich bestens aus in der lyrischen Tradition, und die umfasst keineswegs nur die literarische Moderne oder gar nur die Nachkriegszeit. Am Ende des Bandes nennt er die „Hintergrundstimmen“, die mit zum Teil expliziten Zitaten die Gedichte begleiten. H. C. Artmann, T. S. Eliot und Gunnar Ekelöf gehören ebenso dazu wie Jürgen Becker, Inger Christensen oder Thomas Kling. Aber auch Walter Kempowskis „Echolot“ diente als Ausgangsbasis einiger Gedichte, ebenso wie Walter Benjamins „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“. Daneben sind es vor allem die Dichter des Barocks und der frühen Aufklärung, bei denen Bleutge in die Lehre gegangen ist, Andreas Gryphius, Albrecht von Haller und natürlich Barthold Heinrich Brockes, der Urvater aller modernen Naturpoesie. In seiner opulenten Gedichtsammlung „Irdisches Vergnügen in Gott“ (1721–1748) hatte er erstmals den Versuch unternommen, die in der Natur ablaufenden Prozesse nicht mehr allegorisch auf das Wirken Gottes zurückzuführen, sondern sie mit einem rein immanenten, „physikalischen“ Blick zu beschreiben. Natürlich verwiesen Schönheit und Reichtum der Natur letztlich noch immer auf eine göttlich fundierte ordo, die nun aber bereits pantheistisch angehaucht war. Der Herrgott war damit ein gehöriges Stück ferner gerückt.

Die Ordnung der Natur und der Welt in Bleutges Gedichten hat natürlich nichts mehr mit der Weisheit irgendeines Schöpfers zu tun. Sie entsteht einzig und allein im Auge des Betrachters, oder genauer: in den Sinnesorganen. Schauen, horchen, spüren – Bleutges Gedichte sind Sprache gewordene Wahrnehmung, die völlig ohne das berühmte lyrische Ich auskommen. Der Wahrnehmende hat sich gleichsam aufgelöst in seine Wahrnehmungen, und von einem Ich ist bezeichnenderweise allenfalls in Zitatform die Rede, nämlich im „Fremdmaterial“, das Bleutge in seine Gedichte einbaut. Die Wahrnehmung ist dabei eine wissenschaftlich geprägte: Sie spricht von „sichtgrenze“, „wetterzone“, „strandlinien“, „fallstreifen“, und das eingangs unvollständig zitierte Gedicht über Bäume endet mit den Versen: „ein system von verbindungen / über dem winterasphalt“. Doch anders als die „eisberichte“, die lediglich die „dicke der schichten“ festhalten, erzählen Bleutges Gedichte „vom schauen, vom horchen auf den zustand der luft“. Es geht hier schon längst nicht mehr um den Gegensatz Natur vs. Zivilisation. Die „stadtküste“ kann genauso schön sein wie die „strandhalme über der dünung“, und der „libellenkörper, wie erlegt“ wird nach eingehender mikroskopischer Betrachtung mit einer Nadel durchstochen und der Insektensammlung hinzugefügt. Der Blick reicht aber auch „weit hinein / in die schichten der landschaft“ und führt die historischen Dimensionen des Sichtbaren vor Augen: „und immer rollt mit / das gedächtnis“. „dies endlich stille tal, darin der wind sich dreht“ wird so zum Ort, an dem Idyll und Tod zugleich anwesend sind.

Als 2006 Bleutges erster Gedichtband, „klare konturen“, erschien, war das ein großes Versprechen. „fallstreifen“ löst dieses Versprechen mit bewundernswerter Souveränität ein. Es wäre fast ein Verbrechen, diese Gedichte nicht zu lesen.

Nico Bleutge: „fallstreifen. Gedichte“. C. H. Beck, München 2008, 79 Seiten, 12,90 Euro