Punkte

Mit dieser Erzählung gewann Johanna Wack den Publikumspreis beim diesjährigen Literaturwettbewerb Open Mike, das am vergangenen Wochenende in Berlin stattfand. Unter den 22 TeilnehmerInnen ausgewählt wurde sie von einer von taz-Literaturredakteur Dirk Knipphals betreuten Publikumsjury. Johanna Wack wurde 1979 in Hamburg geboren, wo sie Ökotrophologie fast fertig studierte. Seit 2004 schreibt sie Kurzgeschichten, in Poetry Slams hat sie sich performancemäßig sorgfältig geschult. Gemeinsam mit Xóchil A. Schütz tritt sie auch im Team „Doppelschicht“ auf. Alle Beiträge des diesjährigen Wettbewerbs nachlesen kann man in dem von der Literaturwerkstatt Berlin herausgegebenen Band „16. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik“, Allitera Verlag, München 2008, 180 Seiten, 12,80 €. TAZ

Ab fünf Punkten ist man Borderlinepatientin. Eine Erzählung

VON JOHANNA WACK

1

„Ich erschieße einfach alle“, sage ich. „Erst die ganzen Arschlöcher und dann mich selbst.“ Ich brenne mit meiner Zigarette ein Loch in meinen Unterarm.

„Wow“, sagt Nina mit gespielter Bewunderung, „originelle Idee! Echt! Auch die Zigarettennummer! Du bist wirklich verdammt kreativ!“ Das ist typisch Nina. Kaum habe ich eine Lösung für ein Problem gefunden, nennt sie mich unkreativ. Oder langweilig.

Als ich angekommen war, hielt sie mich fest und schob meinen Ärmel hoch. Betrachtete die Schnittnarben an meinem linken Arm, sah mir dann gelangweilt in die Augen.

„Ne rechtshändige Borderlinerin mit Rasierklingenverletzungen am linken Arm. Ist das alles? Oder hast du sonst noch was?“

„Zigarettenverbrennungen an den Schenkelinnenseiten“, antwortete ich. Sie gähnte. Drehte sich um und ging den Flur hinunter. Dann rief sie laut:

„Martina, Janna, Gabi, Ayse, Laura! Eine Seelenverwandte!“, zwinkerte mir zu und verschwand hinter einer Tür.

Als ich mein Zimmer betrat, saß sie im Schneidersitz auf ihrem Bett und knipste sich mit einem Nagelknipser Haut aus ihrer Fußsohle.

„Ich bin übrigens Nina“, sagte sie, ohne sich von ihrer Beschäftigung ablenken zu lassen.

„Ich bin Lena“, sagte ich und stellte meine Tasche neben mein Bett. Ich beobachtete sie eine Weile.

„Was soll das?“, fragte ich schließlich und zeigte auf ihren Fuß.

„Da gucken sie nicht nach“, sagte sie und drückte ein Taschentuch auf die Wunden.

Mittlerweile bin ich seit drei Wochen hier. Nina nimmt mich nicht ernst. Sie behauptet, ich sei feige und indirekt. Wenn ich Aufmerksamkeit und Anerkennung wolle, dann solle ich mich hinstellen und laut „Ich will Aufmerksamkeit!“ schreien, „Und Anerkennung!“, anstatt mich mit blutenden Armen von Mama und Papa im Badezimmer finden zu lassen. Ich versuchte ihr zu erklären, dass meine Mutter auf diese Aussage in etwa Folgendes antworten würde: „Wenn ihr mir auch nur ein bisschen mehr helfen würdet, dann hätte ich auch mehr Zeit für euch, aber ihr denkt ja immer nur an euch, als ob ich das hier gern tun würde?“ usw. Irgendwann wäre sie dann mit dem Satz „Ich bring mich um!“ in ihr Schlafzimmer geflüchtet.

Bluten ist da auf jeden Fall die wirksamere Alternative.

Nina nickte verständnisvoll und murmelte: „Aha, von deiner Mutter hast du das.“ Dann dachte sie kurz nach: „Wäre das nicht ne großartige Situation, überleg doch mal“, sagte sie schließlich fröhlich, „wenn sie einfach nur ‚Ich will auch Aufmerksamkeit!‘ rufen würde. Oder singen. So wie im Musical.“ Sie stellte sich gerade hin, eine Hand auf ihrem Bauch, holte tief Luft und sang: „Ich will Aufmerksamkeit! Und ein bisschen Anerkennung.“ Sie schlang sich ihr Nachthemd um den Kopf, nahm eine Haarbürste in die Hand und sang erneut: „Ich will auch Aufmerksamkeit!“ „Und dann“, sagte sie aufgeregt, „könntet ihr im Kanon singen, deine kleinen Schwestern noch dazu, du hast doch kleine Schwestern?“

„Ja“, sagte ich hilflos und fragte mich, woher sie das wusste.

„Super!“, sagte sie, „also zuerst die mittlere: ‚Immer kriegt die die ganze Aufmerksamkeit!‘, und dann das Nesthäkchen: ‚Bitte, Mami, Aufmerksamkeit, ich helf dir auch im Haushalt!‘, währenddessen immer noch du und deine Mutter, deine Mutter kniet am Boden und putzt die ganze Zeit den Fußboden, immer schneller und verzweifelter, mittlerweile singt ihr alle das Wort Aufmerksamkeit im Chor und die Anerkennung im Kanon, ihr Kinder stampft mit dem Fuß auf und fangt an, an eurer Mutter rumzuzerren, schließlich fällt diese erschöpft mit ihrem Kopf in den Putzeimer und ertrinkt.“

Ich sah Nina fassungslos an. Noch nie hatte jemand aus meinem Familienchaos und meinen traumatischen Kindheitserfahrungen ein Musical gemacht. Und schon gar nicht eines, bei dem meine Mutter das Opfer ist.

„Das ist total krank“, sagte ich. Sie sah mich belustigt an. „Das findest du krank? Jaja, Musicals, die einen lieben sie, die anderen finden sie krank.“ Sie sprang auf und kam mit ihrem Gesicht so nah an meines heran, dass sich unsere Nasenspitzen fast berührten und ihre beiden Augen zu einem wurden. „Alles eine Frage der Betrachtung“, sagte sie und verließ, schiefe Töne pfeifend, unser Zimmer.

Nina betrachtet das Loch in meinem Arm. „Das ist gar kein Loch“, sagt sie, „eher im Gegenteil, das ist eindeutig eine Blase.“ Sie versucht sie mit ihrem Daumen in meinen Arm zu drücken. „Aua“, sage ich, „nicht so doll!“

„Ich dachte, du stehst auf Schmerzen“, sagt sie und tut überrascht. Sie sieht mich lange an. „Weißt du, was ich glaube“, sagt sie schließlich, „ich glaube, du bist überhaupt kein Borderliner, du tust nur so.“

„Spinnst du“, frage ich, „warum sollte ich das?“

„Bist du im Bridgeclub? Oder im Sportverein?“, fragt sie.

„Was hat denn jetzt Borderline mit nem Sportverein zu tun?“, will ich genervt wissen.

„Gruppenzugehörigkeit“, sagt sie fachmännisch. „Du solltest dir ein anderes Hobby als Armeaufschneiden mit Gleichgesinnten teilen.“

Sie sieht mich eindringlich an und sagt: „Ist dir eigentlich schon mal die Doppeldeutigkeit von Armeaufschneiden aufgefallen?“

Dann winkt sie ab und sagt: „Das nur nebenbei. Wie wär’s mit Hockey?“

„Du hast doch echt ne Vollmeise!“, rufe ich wütend. „Erst machst du aus meiner Familiengeschichte ein Musical, dann nennst du meine Verbrennungen und die Suizidgedanken unkreativ, und jetzt bezeichnest du meine Selbstverletzung auch noch als Hobby!“

„Dööd, Fehler!“, ruft Nina und tut so, als würde sie auf einen Fernsehspielbutton schlagen. „Nicht das ‚Was‘ zählt, Lena, mir geht es um das ‚Wie‘. Du kannst dich meinetwegen verletzen und umbringen. Aber Zigarettenverbrennungen und Amoklauf? Das ist selbst für dich ziemlich arm.“

„Und, haben Sie ne bessere Idee, Miss Kreativsuizid?“, frage ich gekränkt.

„Etliche!“, sagt sie triumphierend. „Aber die verrate ich dir nicht, da musst du dir schon selbst was ausdenken.“ Nina steht auf und geht in Richtung Bad.

„Du brauchst doch nur eine, falls du’s vergessen hast!“, rufe ich ihr hinterher. Nina kommt zurückgeschlendert und bindet sich ihre Haare zum Zopf. Ich kann ihre Narben an ihren Unterarmen sehen.

„So wahnsinnig originell bist du anscheinend auch nicht immer gewesen“, sage ich und zeige auf ihre Arme.

Nina sieht mich an. „Wie viele Punkte hast du eigentlich?“, fragt sie.

„Was für Punkte?“, frage ich verwirrt.

„Borderlinepunkte“, sagt Nina. „Ich hab neun. Das ist die Höchstpunktzahl, so viele hat hier niemand.“ Sie setzt sich auf meine Bettkante. „Und du? Sag schon!“

„Fünf, glaube ich“, sage ich und ärgere mich im selben Moment, nicht gelogen zu haben.

„Fünf?“, fragt Nina, und lacht. „Das ist das Minimum. Ein Punkt weniger, und du wärst gar kein Borderliner, verstehst du?“ Sie steht auf und geht zur Tür. „L’Allemagne: cinq points. Germany: five points.“

Sie geht raus, steckt ihren Kopf durch die Tür und sagt:

„Hab ich mir doch gedacht!“

Dann zieht sie die Tür zu.

2

Ich liege auf meinem Bett, starre die Zimmerdecke an und versuche nachzudenken. Ist die Boderlinediagnose nicht mehr als eine erreichte Punktzahl? Nicht mehr als die bloße Summe einzelner Teile? Ich muss an das Mentos-Cola-Gerücht denken: Schmeißt man ein harmloses Pfefferminzbonbon in eine Cola, soll eine wahnsinnige Fontäne entstehen. Eine regelrecht explosive Mischung. Sind Borderliner die Colas dieser Welt, die Einzigen, die mit den Pfefferminzbonboninhalten und ihren Wahrheiten nicht zurechtkommen? Ich fühle mich schlecht bei der Idee, wie Cola zu sein. Cola hat in unserer Familie keinen guten Ruf gehabt. Ich bin Cola, lasse Gummibärchen aufquellen und Fleisch in seine Fasern zerfallen.

3

Aus meiner Schuhsohle pule ich meine Notfallrasierklinge. Scheiß doch auf Kreativität. Tot ist tot.

Mir fällt der Abschiedsbrief ein. Meine Eltern haben ihren schon vor Jahren bekommen. Es hat sich nicht viel geändert:

„Liebe Mama, lieber Papa,

wenn Ihr diesen Brief lest, bin ich tot. Ich konnte nicht mehr. Macht euch keine Sorgen, es geht mir jetzt bestimmt gut. Ihr habt keine Schuld an meinem Tod. (Auch wenn ihr viel falsch gemacht habt.)

Liebe Grüße an Oma Greta und natürlich auch an Maja und Lisa, sagt ihnen, sie sollen gut auf Hasi aufpassen, ich hab euch lieb, eure Lena“

Manches hat sich schon geändert. Oma Greta und Hasi sind mittlerweile tot. Und ich hatte ihn damals noch auf hellblauem Diddlmaus-Briefpapier geschrieben.

Aber trotzdem hatte er nie an Aktualität verloren.

„Liebe Nina“, schreibe ich, „wenn du diesen Brief liest, bin ich tot. Du hast keine Schuld.“

Die Tür geht auf. Ich stopfe die Klinge und den Brief unter meine Decke.

„Was machst du denn da?“, fragt Nina.

„Ich denke nach“, sage ich. Sie springt auf mich zu, drückt mich aufs Bett und greift unter die Decke.

„So, so“, sagt sie. „Das nennst du Nachdenken? Kein Wunder, dass da nichts Vernünftiges bei rauskommt.“ Sie liest den Anfang des Briefes und prustet los: „Oh Gott!“, ruft sie. „Was wäre denn nach ‚Wenn du das liest, bin ich tot‘ gekommen? ‚Ich konnte einfach nicht mehr?‘ Ist dir echt nichts Besseres eingefallen als dieser Standardblödsinn? Die Mühe hättest du dir sparen können, ich wette, dass es solche Abschiedsbriefe auch als Word-Vorlage gibt.“

Ich schlage ihr mit der Faust ins Gesicht. Damit hat sie nicht gerechnet. Sie lässt alles, was sie in den Händen hat, fallen. Ich schnappe mir die Rasierklinge und schneide meinen linken Arm vom Handgelenk bis zur Beuge auf. Das Blut schießt im Takt aus meinem Arm. Nina schreit: „Spinnst du?“, und drückt beide Hände auf das Blut.

Ich sage noch: „Blöde Frage“, bevor ich umkippe, und finde mich witzig.

4

Als ich aufwache, lebe ich noch. Ich bin im Krankenhaus. Mein linker Arm ist verbunden und tut weh.

Auf meinem Bauch liegt ein weißer Umschlag. Ich mache ihn mit den Zähnen und meiner intakten Hand auf.

Ich ziehe eine Karte aus dem Umschlag.

„Herzlich willkommen!“ steht in silberfarbener Schrift auf einem Luftballon, der von einem Teddybären gehalten wird.

Ich klappe sie auf.

„Liebe Lena, wenn du diese Karte liest, bist du nicht tot. Die Ärzte und Krankenschwestern sind schuld. Liebe Grüße auch von Schwester Monika und den anderen!

Deine Nina“

5

Ich will nicht mehr ich sein. Ich beschließe, wie Nina zu werden. Als ich meiner Therapeutin davon erzähle, macht sie sich Notizen, und mir fällt auf, dass ich jetzt schon sechs Punkte habe: Ich habe eine ausgeprägte Identitätsstörung entwickelt.

Als ich wieder in unser Zimmer komme, pfeife ich „Schön ist es auf der Welt zu sein“ und binde mir die Haare zum Zopf. Nina beachtet mich nicht. Ich tue so, als wäre es mir egal.

Wir haben eine Neue im Zimmer. Sie sieht aus wie eine Barbie.

„Und, BB, was geht bei dir so?“, frage ich und lehne mich lässig an die Wand.

„BB?“, fragt sie. „Meinst du Brigitte Bardot?“ Sie sieht mich hoffnungsvoll aus schwarzen Kajalumrandungen an.

„Quatsch“, sage ich. „Borderline-Barbie natürlich!“

Ich höre Nina hinter mir losprusten. Und fühle mich großartig.

6

Ich erzähle meiner Therapeutin, wie gut es mir geht. BB hat anscheinend auch mit ihr gesprochen, denn meine Therapeutin redet sehr lange von Autoaggression und Aggression und Ventilen. Ich bin gelangweilt und frage mich, wie Nina darauf reagieren würde. Um nichts falsch zu machen, reagiere ich gar nicht. Ich glaube, dass ich meine Therapeutin damit verwirre. „Die Oberschlauen in die Supervision zwingen“, nennt Nina das.

Ich beobachte Nina. Ich studiere sie. Jeden Tag lerne ich etwas dazu. Ich verletze mich kaum noch selbst. Es geht mir gut, so, wie ich jetzt bin. Nur den anderen auf der Station geht es zunehmend schlechter. Sie haben BB aus unserem Zimmer genommen.

„Komisch“, sagt Nina, „es wäre taktisch klüger gewesen, wenn sie mich aus dem Zimmer genommen hätten und nicht den Sündenbock BB.“ Sie steht auf und imitiert ein Hitlerbärtchen, indem sie Zeige- und Mittelfinger unter ihre Nase hält. Dazu spricht sie mit rollendem R, zackig und ernst: „Schnappe dir stets den Führer einer Gruppe, um die Mitläufer zu demoralisieren!“ Sie zwinkert mir zu und sagt im normalen Nina-Ton: „Alte Kriegsweisheit.“ Dann redet sie wieder wie Hitler: „Wir müssen herausfinden, was der Feind plant. Das Borderlinevolk muss unbedingt zusammenhalten! Sonst werden wir von der weißen Armee überrollt! Der Feind ist hinterlistig und plant einen Überraschungsangriff. Aber wir sind schlauer und werden ihn mit gut platzierten Landminen überraschen!“

„Du hast schon mitbekommen, dass Hitler seinen Krieg damals verloren hat, ja?“, frage ich, genervt von ihrer schlechten Imitation.

„Und warum wohl?“, fragt Nina lachend. „Weil er Borderliner war, der größenwahnsinnige Idiot!“, ruft sie, bevor sie mir die Chance auf eine Antwort gegeben hat.

„Hitler, klar“, sage ich müde. Die Nina-Themen fangen an, mich zu nerven. Borderline. Immer nur Borderline. Wer hat es und wie und wie viele Punkte und warum.

„Schreib doch ein Lied drüber“, sage ich und drehe ihr den Rücken zu.

„Lena!“, ruft Nina. „Lena!“

„Was?“, rufe ich gereizt zurück. Ich will nicht mehr wie sie sein. Ich will nach Hause.

„Geile Idee!“, ruft Nina.

„Borderline, oh, Borderline, bist größer als mein Eigenheim!

Borderline, oh, Borderline, reimst dich sogar auf Lena-Klein.“

„Borderline, oh, Borderline“, denke ich, „lass mich mit deinem Reim allein.“

7

Ich werde entlassen.

Meine Therapeutin erklärt mir, dass die Borderlinediagnose bei mir wohl nicht so ganz richtig gewesen sei. „Sie haben eher so etwas wie eine temporäre narzisstische depressive Störung“, erklärt sie mir. „Relativ normal in Ihrem Alter.“ Bei dem Wort „normal“ macht sie diese Gänsefüßchenzeichen mit ihren sich krümmenden Mittel- und Zeigefingern. Dann sagt sie: „Leider sind wir in dieser Klinik auf dieses Störungsbild nicht spezialisiert“, und schiebt mir eine Überweisung zu.