In Witzgewittern

Tilman Rammstedts Roman „Der Kaiser von China“ verwebt sehr eigenartig zügellose Komik mit bedrückenden Kindheitsvorstellungen

VON WIEBKE POROMBKA

Tilman Rammstedt hat seinem Roman „Der Kaiser von China“ eine sehr skurrile Konstellation zugrunde gelegt. Keith hätte mit seinem Großvater nach China reisen sollen. Das war der letzte Wunsch des alten Mannes. Mit Händen und Füßen hat sich der Enkel gesträubt, bis der Großvater schließlich allein losgefahren ist, mit dem Auto allerdings, weil ihm weisgemacht wurde, Flugtickets nach China seien auf lange Zeit ausgebucht. Bis in den nahe gelegenen Westerwald schafft es der Großvater gerade mal, derweil sein Enkel sich zu Hause eingeschlossen und unter dem Schreibtisch verkrochen hat, damit niemand merkt, dass er den Großvater im Stich gelassen hat. Während der nun an den Enkel Ansichtskarten aus dem Westerwald schreibt, die mit chinesischen Bildchen und Vorwürfen übersät sind, hat Keith sich Schwämme an die Knie gebunden, damit das tagelange Kriechen unter dem Schreibtisch nicht so scheuert.

Seinerseits schreibt er Briefe an die Geschwister, in denen er die Reise nach China vorflunkert. Was nicht eingeplant war: Der Großvater stirbt und liegt nun wenige Kilometer entfernt in der Pathologie. Keith müsste hinfahren und ihn identifizieren, was ihm fast genauso zuwider ist wie die Reise nach China. Deshalb bleibt er vorläufig unter seinem Schreibtisch hocken, lässt sich von seiner Freundin – die er eigentlich in wenigen Stunden heiraten soll – und der Pathologin den Anrufbeantworter voll sprechen und überlegt, wie er einigermaßen heil wieder rauskommt aus dem Schlamassel.

Mit dieser Anfangspassage seines Romans ist Rammstedt das Kunststück gelungen, beim Klagenfurter Wettlesen in diesem Jahr nicht nur den von der Kritikerjury vergebenen Bachmann-Preis, sondern gleich auch noch den Publikumspreis zu gewinnen. So weit, so gut. Das Buch muss aber ja weitergehen – und jetzt wird es seltsam. Einerseits zieht Rammstedt die Pointenschraube noch einmal an, regelrechte Witzgewitter lässt er niederprasseln. Bei Lesungen werden ihm die Leute zu Füßen liegen, beim Lesen selbst ist es einem manchmal fast ein bisschen zu viel des Guten.

Aber dieses Zuviel ist Prinzip. Was Rammstedt nämlich auch erzählt, ist die Geschichte einer grundtraurigen Kindheit, die man nur deshalb nicht sofort als bedrückend empfinden kann, weil das Pointengeschepper so laut ist. Eigentlich ist es eine Verwahrlosungsgeschichte. Eltern waren nur sporadisch da. Keith und seine Geschwister sind beim Großvater aufgewachsen, dessen tyrannisches Wesen mehr und mehr enthüllt wird. Immer absurdere Formen nimmt an, was Keith von seiner Vergangenheit preisgibt. Auf dem Ballettkleid der Schwester klebte schon mal ein Zettel mit dem Hinweis des Großvaters, dass sie doch hierfür wohl zu dick sei, keine Freundin von Keith ist vor der Lüsternheit des alten Herrn sicher gewesen, und ziemlich eindeutig scheint, dass der Großvater den einen oder anderen Versuch unternommen hat, seine Enkel um die Ecke zu bringen.

Keine Frage, dass es der größte Triumph von Keith ist, dem Großvater seinerseits eine von dessen ständig wechselnden Liebschaften ausgespannt zu haben. Und keine Frage auch: Mit so einem unternimmt man nicht freiwillig eine Reise nach China. Wie es aber nun mal so ist mit den verflixten Familienbanden: Die Briefe, die Keith da unter seinem Tisch schreibt, sind nicht nur dazu da, den Geschwistern etwas vorzuspielen. Vor allem werden sie zu einem Abarbeiten der Schuld daran, dem Großvater den letzten Wunsch nicht erfüllt zu haben. Und sie werden gleichsam zu dem Versuch, aus dem Großvater rückwirkend doch noch einen guten Menschen zu machen. Er hätte auf der Reise der Erinnerung an die einzig wirkliche Liebe seines Lebens nachspüren wollen, fantasiert Keith.

Der mehrfach doppelte Boden von Rammstedts Roman besteht nun darin, dass alles natürlich auch komplett anders sein könnte. Man hat es mit einem ganzen psychoanalytischen Verschiebebahnhof zu tun. Vielleicht spinnt Keith sich den Großvater nur so bösartig und die eigene Kindheit nur so trostlos hin, um nachträglich zu rechtfertigen, dass er womöglich einfach nur keine Lust gehabt hat, sich mit dem alten Mann abzugeben. Vielleicht wird aber auch der Großvater in den Briefen nur deshalb zu einem guten Menschen, weil das mit dem Rechtfertigen nicht gelingen will.

Wer ein herzzerreißend komisches Buch über das Abschiednehmen und das Erwachsenwerden sucht, der wird die immer ausführlicher werdenden Briefe aus einem imaginären China, in denen sich der Erzähler auf die melancholische Spurensuche in einer imaginären Vergangenheit begibt, mit zunehmender Begeisterung lesen. Umso mehr mag der sich dann an der Brachialkomik stören, die mit reichlich pubertärem Ekelwitz gemixt ist und die Rammstedt bis zum Abwinken über das Geschehen poltern lässt. Wer gerade darin den Unterhaltungswert des Romans sieht, mag sich umgekehrt fragen, was um alles in der Welt dieser düstere Background soll.

Die Kunst von Tilman Rammstedt besteht aber gerade darin, dass diese beiden Seiten untrennbar miteinander verwoben sind. Vielleicht besteht genau darin die Unergründlichkeit der Fantasie, genauso wie die eigenartige Eigenwilligkeit des Erzählens.

Tilman Rammstedt: „Der Kaiser von China“. Dumont, Köln 2008, 192 Seiten, 17,90 Euro