Hohe Wellen da draußen

Ein Surferroman mit Grenzerfahrungen aller Art: Tim Wintons „Atem“

Es ist der Zustand kurz vor der Bewusstlosigkeit, mit dem alles beginnt. Als Elfjährige tauchen Ivan Loon, genannt Loonie, und Bruce Pike, von allen nur Pikelet gerufen, am nahen Fluss unter die Wurzeln der Bäume am Ufer; halten sich dort fest, bis es wirklich nicht mehr geht; bis sie wieder an die Oberfläche schießen müssen und ihnen übel und schwindelig ist.

Aus gutem Grund heißt Tim Wintons neuer Roman „Atem“ – es ist ein sich zunehmend unheilvoll entwickelndes Motiv, das sich durch das gesamte Buch zieht. Loonie und Pikelet sind ein ungleiches Freundespaar: ein Draufgänger der eine, dessen Mutter sich aus dem Staub gemacht hat und dessen Vater in dem australischen Provinzkaff Sawyer den Pub führt; ein eher ängstlicher und introvertierter Junge der andere.

Gut 35 Jahre später erinnert sich Bruce in Rückblenden an diese Zeit; die Art und Weise, wie diese Erzählstimme inszeniert wird, lässt bereits ahnen, dass dies kein Sommer-Sonne-gute Laune-Surfroman ist. Denn um das Surfen geht es letztendlich. Der Amerikaner Kem Nunn hat mit „Wellenjagd“ und „Wo Legenden sterben“ in den Neunzigerjahren zwei Romane vorgelegt, die in diesem Genre (und nicht nur da) Maßstäbe setzen.

Sein australischer Pendant Winton erreicht in seinen guten Momenten Nunns existenzielle Tiefe, doch beginnt seine Geschichte heiterer, leichtfüßiger: „Wie merkwürdig war es doch“, so schreibt der gealterte Bruce, „Männer etwas Schönes tun zu sehen. Etwas Zweckfreies und Elegantes, als würde niemand es sehen oder sich darum kümmern. In Sawyer, einer Stadt der Säger und Holzfäller und Milchfarmer, mit einem Fleischer und der Filiale der Landbank neben der Tankstelle, taten Männer solide, praktische Dinge.“ Mit alten Boards und ohne weitere Ausrüstung paddeln Loonie und Pikelet nach draußen in die Wellen, werden dort zunächst nicht ernst genommen von den älteren Surfern, machen aber trotzdem weiter, Jahr für Jahr. Schon hier wird deutlich, dass der Roman auf das Extreme, auf die Grenzerfahrung und die selbstzerstörerische Sucht danach, hinausläuft.

Sowohl das Surfen als auch die Freundschaft der beiden erhält endgültig eine neue Dynamik, als eine Art von Gurufigur ins Spiel kommt: Sando, ein blonder Einzelgänger mit Hippie-Aura, älter als die anderen Surfer, der mit seiner gehbehinderten Frau in einem merkwürdigen Haus am Strand wohnt (auch diese Behinderung, so zeigt sich, ist ein Resultat eines Extremsportunfalls). Loonie und Bruce buhlen gleichermaßen um Sandos Gunst; dieser wiederum treibt beide immer weiter in ihrem Ehrgeiz nach höheren Wellen und gefährlichen Situationen. Und plötzlich inszeniert Winton einen doch recht radikalen Einschnitt in den Plot seines Romans: Sando und Loonie gehen gemeinsam auf Reisen und lassen Frau und besten Freund buchstäblich im Regen stehen. Letztendlich sind es doch allesamt Nomaden, die hier miteinander verknüpft sind; Einzelgänger mit einsamen Leben.

Die Erfahrung der Selbstentgrenzung, die Bruce bislang nur vom Surfen kannte, erfährt er nun auch auf sexuellem Gebiet, mit unguten Folgen. Der als Rettungssanitäter arbeitende Icherzähler Bruce, mittlerweile Ende fünfzig, wird eines Tages mit einem Jungen konfrontiert, der sich selbst erdrosselt hat. Bruce weiß sofort, dass es kein Selbstmord, sondern ein Unfall war. Michael Hutchence, der Sänger der australischen Band INXS, ist einstmals auf ähnliche Art ums Leben gekommen.

„Wir sind nicht zum Spielen hier“, sagt Sando eines Tages da draußen auf dem Meer. Er hat recht. CHRISTOPH SCHRÖDER

Tim Winton: „Atem“. Roman. Aus dem australischen Englisch von Klaus Berr. Luchterhand Verlag, München 2008, 236 Seiten, 16,95 Euro