Wesen vom anderen Stern

Anya Ulinich heißt eine russisch-amerikanische Autorin, deren Namen man sich merken sollte. Ihr Debüt: „Petropolis“

VON KATHARINA GRANZIN

Es ist nicht leicht, ein dickes, schwarzes Mädchen in Sibirien zu sein. Die junge Sascha wohnt dort mit ihrer Mutter Ljubow, einer „klassischen russischen“, also blonden, Schönheit. Saschas dunkler Teint stammt von ihrem Vater Victor, dessen unbekannte Mutter auf den legendären Weltjugendfestspielen von 1957 eine unaufgeklärte Begegnung mit einem afrikanischen Teilnehmer gehabt und das daraus resultierende Kind nach der Geburt zur Adoption freigegeben hat. Als Sascha zwölf ist, verschwindet Victor auf Nimmerwiedersehen nach Amerika. Seitdem tut Ljubow so, als hätte Sascha nie einen Vater gehabt.

Eine traurige Exposition. Und doch wieder nicht. Denn dieses Buch, das Coming-of-age- und Emigrantenroman in einem ist, pulsiert vor hintergründigem Witz. Ohne zu murren, schultert Sascha die Tragik des Lebens. Es bleibt ja noch die Freiheit des Achselzuckens.

In ihrem Ehrgeiz, Sascha zu einem „kultivierten“ Menschen zu machen, ein Vorhaben, das in einem sibirischen Kaff nicht leicht umzusetzen ist, bringt Ljubow ihre Tochter in die örtliche Kunstakademie für Kinder. Unter dem strengen Regime der nach den ästhetischen Maßstäben des 19. Jahrhunderts geschulten Lehrer entdeckt Sascha nicht nur, dass Kunst harte Arbeit sein kann, sondern gewinnt auch neue Freiheiten. Zum ersten Mal unter Gleichgesinnten, schließt sie Freundschaft mit der brillanten Katja, deren Familie neben einer Müllkippe in einer Betonröhre wohnt. Sascha verliebt sich in Katjas Bruder und bekommt mit fünfzehn ein Kind. Da sie kurz danach am berühmten Repin-Lyzeum in Moskau aufgenommen wird, setzt ihre Mutter alles daran, Sascha von ihrem Baby zu trennen und sie fortzuschicken, damit sie etwas aus ihrem Leben macht. Doch dieser Plan schlägt fehl. Sascha leidet unter der Trennung von ihrer Tochter und fühlt sich auf der Elitekunstschule fehl am Platz. Heimlich heuert sie bei einer Brautvermittlungsagentur an und lässt sich vom erstbesten Amerikaner wegheiraten. Wie ein Wesen vom anderen Stern landet sie in Phoenix, Arizona.

Anya Ulinich übrigens, Saschas Schöpferin, ist weder schwarz, noch verfügt sie, den Pressefotos nach zu urteilen, über sichtbares Übergewicht. Auch ist sie als Teenager nicht über eine Brautvermittlung in die USA gekommen, sondern zusammen mit ihren Eltern. Um einen autobiografischen Roman handelt es sich also keineswegs. Doch dass es biografische Parallelen zwischen der Kunstabsolventin Ulinich (University of California) und ihrer Romanheldin gibt, darf ruhig erwähnt werden. Wie Sascha hat Anya Ulinich als Kind unter dem strengen Regiment postsowjetischer Kunstlehrer gelernt und gelitten; den Kulturschock, ins heiße Arizona versetzt zu werden, teilt sie mit ihrer Heldin, und auch deren Erfahrung, sich im Exil zunächst auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie wiederzufinden.

Ulinich hat also eigene Erfahrungen ins Extreme übersteigert und umgewandelt, um diese Geschichte erzählen zu können. Das grundiert ihre oft ins Surreale spielende Erzählung mit einer Authentizität, die einem ob der Härte des Lebens das Herz abschnüren könnte, wenn eben nicht Sascha eine Heldin wäre, die mit einer unfassbaren Stärke durch diese Welt geht, die auf sie nicht gewartet hat. Nachdem Sascha aus ihrer Katalog-Ehe geflüchtet ist, muss sie sich uf dasim Einwandererland ganz unten durchkämpfen. Eine Weile lebt sie geduldet bei russischen Bekannten von Bekannten, um dann als quasi leibeigene Hausangestellte einer reichen Chicagoer Familie zu jüdischer Frömmigkeit erzogen werden zu sollen. Irgendwann kommt Sascha auf die Idee, dass sie ja ihren Vater suchen könnte, der immerhin in die USA emigriert ist. Doch als sie ihn findet, verleugnet er sie feige. Und auch in der alten Heimat steht nicht alles zum Besten.

Dass dies Anya Ulinichs erster Roman sein soll, ist kaum zu glauben, so unerhört schwerelos meistert sie den kühnen Balanceakt zwischen Satire und Melodram, Komik und Tragik, und so souverän führt sie ihre Erzählung, die sich geografisch und überhaupt ziemlich weit vom Ausgangsort entfernt hat, am Ende zwar nicht zurück, doch alle Erzählfäden sicher und zur schönsten Befriedigung der Leser wieder zusammen. Außerdem ist Ulinichs schön lakonisches Englisch von Pieke Biermann wohlbehalten in ein ebenso lakonisches Deutsch überführt worden.

Anya Ulinich: „Petropolis“. Aus dem Englischen von Pieke Biermann. dtv, München 2008. 419 Seiten, 14,90 Euro