Wahrhaftige Lügner

Als das Erzählen schreiben lernte: Eine neue Anthologie zur Erzählkunst des klassischen Altertums

VON TOBIAS SCHWARTZ

Homer, Herodot, Platon oder Plutarch. Namen antiker Erzähler, die recht geläufig sind und deren Werke der ein oder andere Literaturliebhaber sogar gelesen haben mag. Apulejus, Lukian, Livius, die vielleicht gerade auch noch. Und möglicherweise die spätmittelalterliche Geschichten-Sammlung „Gesta Romanorum“. Aber Dion Chrysostomos, Phlegon oder Aristainetos, auch Philostratos, Athenaios oder Aelian? Das sind Namen, die wohl nur dem Spezialisten und Kenner der klassischen Antike vertraut sind. So einer ist zweifellos der Altertumswissenschaftler und Autor Michael Schroeder, der in Süditalien, Griechenland und Syrien forschte und erst kürzlich eine Biografie der „ersten Dichterin Europas“, Sappho von Lesbos, publiziert hat.

In einem hübschen roten Leinenband, der in einer mit antiken Motiven versehenen Schmuckkassette steckt, ist jetzt im Insel-Verlag eine umfassende Anthologie klassisch antiker Erzähltexte unter dem Titel „Der goldene Apfel“ erschienen, die Schroeder herausgegeben und der er ein Vorwort vorangestellt hat. Darin denkt er über die Frage nach, „warum die Menschen erzählen“, und betont die Verwandtschaft zwischen dem Phänomen, Geschichten zu erzählen und auszuschmücken, und dem Phänomen, damit Geschichte überhaupt zu überliefern. Zu trennen ist das schwer oder gar nicht, das zeigt sich besonders deutlich in der Antike. In den griechischen und orientalischen Mythen geht es um Welterklärungen und Geschichtsschreibung, die Erzählungen haben einen belehrenden, oft philosophischen Charakter wie etwa Platons Schöpfungsgeschichte „Vom Ursprung der Tiere und Menschen“.

Erst im Laufe der Jahrhunderte findet eine Ironisierung, eine Hinterfragung, auch eine Dekonstruktion des Mythos statt. Bestes Beispiel ist der Satiriker Lukian, dessen „Lügengeschichten“ genauso wie seine „Wahren Geschichten“ von einem Paradigmenwechsel zeugen: „Aus eitler Ruhmsucht kam ich auf den Gedanken, etwas der Nachwelt zu hinterlassen, um nicht allein der Freiheit im Fabulieren unteilhaftig zu sein, da ich aber nichts Wahres zu erzählen hatte, verlegte ich mich auf die Lüge, was in meinem Fall viel verzeihlicher ist als bei anderen; ich werde nämlich in dem einen Punkt die Wahrheit sprechen, wenn ich sage, dass ich lüge.“ Eine amüsante Anspielung auf Platons berühmte Behauptung aus der „Politeia“, dass Dichter lügen, und vielleicht die beste Antwort auf Schroeders Frage im Vorwort: „Warum erzählen?“ Auf jeden Fall ein klares Statement für die Literatur in Abgrenzung zur Überlieferung von Wahrheiten, Literatur als Erzählkunst.

Die Folgen in der Neuzeit sind bekannt. Zu zeigen, dass Wahrheiten wandelbar sind und der Beschreibungsperspektive unterliegen, könnte zudem ein philosophisches Anliegen des Buches sein. Schroeder zieht nicht nur Jean-François Lyotard, den Erzähltheoretiker der Postmoderne, erläuternd heran, sondern liefert selbst einen im Kontext bemerkenswerten Satz: „Und auch die wiedergelesene Geschichte ist, wie auch die wiedergehörte, immer wieder eine andere.“ Natürlich lässt sich das auch profan als Eigenwerbung lesen.

Am Anfang steht Homer, der Schöpfer der abendländischen Literatur. Ausgewählte Passagen aus der „Odyssee“ erzählen die Abenteuer rund um den Zyklopen Polyphem und die Zauberin Kirke. Das sind vertraute Sagen, wie man sie aus Gustav Schwabs berühmter Sammlung kennt, die Anthologie aber geht noch ein ganzes Stück weiter. Es folgen Aelians Beschreibungen des Lebens Alexanders des Großen oder die Gründungsmythen der Stadt Rom um Romulus und Remus oder den Raub der Sabinerinnen, deren verschiedene Überlieferungen der römische Geschichtsschreiber Livius kritisch kommentiert.

Dass in der Anthologie Philosophen neben Dichtern und Satirikern, Herodot als „Vater der Geschichtsschreibung“ neben dem bukolischen Romancier Longos oder dem Fabeldichter Äsop stehen, ist eine Konsequenz aus Schroeders Ansatz. Schön auch die Selbstverständlichkeit, mit der hier Bibeltexte als das genommen werden, was sie sind: mehr oder weniger kunstvoll verfasste Literatur. Das berühmte Lukasevangelium dient genauso als narratives Zeugnis wie das apokryphe „Kindheitsevangelium“ des „ungläubigen Apostels“ Thomas, der Jesus als Problemkind schildert, das wirklich nicht ganz ohne ist. Über tausend Jahre umfasst am Ende die Zeitspanne, aus der die Texte zusammengestellt sind.

Der erst seit dem achtzehnten Jahrhundert gängige Begriff Anthologie stammt aus dem Griechischen, Ánthología meint ursprünglich das „Sammeln von Blumen“. Dem Sammler Schroeder ist hier eine bunte Mischung gelungen. Wilde, teils blutrünstige Abenteuer sind darin enthalten, Spukgeschichten, zotige wie rührende Liebesgeschichten, Geistreiches und nicht zuletzt Urkomisches. Ein vielfältiges Lesebuch also. Nun kann man sich über Anthologien bekanntlich wunderbar streiten. Es fehlt immer was, manch einer hätte sich vielleicht noch Texte von Hesiod, Theokrit, Vergil oder Ovid gewünscht. Aber es geht nicht um Vollständigkeit. Sicher ist, man kann hier Schätze finden und wiederfinden.

„Der goldene Apfel“ Herausgegeben von Michael Schroeder. Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2008, 675 Seiten, 48 Euro