berliner szenen Brüder, zur Sonne

Der lange Weg

Sonntag. Draußen der Himmel kalt und blau. Drinnen ich, im Bett, mit Buch. Bei so ’nem Wetter muss man doch spazieren gehen, um ein wenig Sonne zu tanken. Es ist schon drei, als ich in neu gekauften Winterschuhen vor dem Haus stehe. Die Sonne hängt bedrohlich nah am Horizont. Die Straßenschluchten sind in Schatten getaucht, während die oberen Stockwerke noch im Licht der Sonne gleißen. Ich denke an Funtensee, einen Ort in Deutschland, der noch nie die Sonne gesehen hat und an dem es manchmal minus 40 Grad Celsius hat.

Jetzt heißt es: Hinauf auf den Prenzlauer Berg, und zwar in höchste Höhen, um noch das letzte Licht zu erhaschen. Es muss zu schaffen sein, die Tage werden schon seit drei Wochen länger. Hinter einem großen Wohnriegel durchquere ich den Friedhof, hier wartet der THX-Bus auf seinen Einsatz. Auf der anderen Straßenseite über die Mauer des Friedhofnordteils, ein schneebedeckter, an einen Märchenwald erinnernder Gottesacker, der verwittert, seit die letzten Toten begraben wurden.

Im oberen Teil wandere ich auf dem letzten Lichtstreif der Sonne Richtung Nordausgang. Der aber ist versperrt. Also wieder über die Mauer, dabei zerreiße ich mir die Hose, die Temperatur zieht an. Am Ende der Winsstraße liegt mein Ziel. Ich komme am Haus vorbei, in dem von 1925 bis 1941 Hans Rosenthal gewohnt hat, der erste TV-Spielshow-Moderator meines Lebens. Dann endlich: Ernst-Thälmann-Park! Ganz oben angekommen, hinter dem Zeiss-Großplanetarium, vereiste Hügel, auf denen Kinder mit ihren Eltern Schlitten fahren. Aber auch hier scheint keine Sonne mehr. Beim nächsten Mal muss ich wohl früher aufstehen. Jetzt schnell zurück ins Bett. Zum Buch. „Grenzgänger“ von Cormac McCarthy. RAN HUBER