daumenkino
: „Man on Wire“

Vielleicht muss man Höhenangst haben, um diesen Film richtig genießen zu können. Wer schon bei Archivaufnahmen eines kleinen Mannes auf einem Drahtseil in 400 Meter Höhe angstvolle Erregung mitfühlt, wird sich jedenfalls kaum lösen können von dieser Dokumentation. Der Drahtseilartist Philippe Petit selbst hat natürlich keine Höhenangst, beziehungsweise: Er hat sie ins Gegenteil sublimiert. Was andere schon beim bloßen Gedanken in Panik versetzte, stellte für ihn die Erfüllung eines Lebenstraums dar: ein Seil zwischen den Türmen des World Trade Centers, bei ihrer Fertigstellung immerhin die höchsten Gebäude der Welt, auf dem er hin und her laufen kann.

Die Filmaufnahmen und die Zeugenaussagen von jenem Augustmorgen im Jahr 1974 beweisen: Philippe Petit ist nicht nur auf dem Seil gelaufen, nein, einer der Polizisten, die darauf warteten, dass er vom Seil steigt, um ihn zu verhaften, bringt es mit einer unnachahmlichen Mischung aus Ärger und Bewunderung auf den Punkt: Er tanzte darauf!

Petits Aktion war illegal. Die Tagline des Films zitiert deshalb den Ausspruch vom „artistic crime of the century“. James Marshs Film stellt tatsächlich beide Seiten heraus: Einerseits gibt es da die minutiöse Nacherzählung der Aktion durch Zeitzeugen und Komplizen, die der Dramaturgie eines raffinierten Bankraubs folgt. Andererseits unterstreicht er den Zauber dieses Akts, der ein reiner Zirkusakt ohne jede politische Bedeutung war. Die, die damals den Blick hoch wendeten, empfanden Staunen und das seltene Gefühl von Einmaligkeit. Vielleicht war es sogar so: Stellvertretend für alle, die sich von ihren Ängsten gequält und gefesselt fühlen, demonstrierte Petit an diesem Morgen deren tollkühne Überwindung. Weshalb er mit Sympathie förmlich überschüttet wurde.

Diese Sympathie ist es denn auch, die einen darüber hinwegsehen lässt, dass Marsh die notorischen „Discovery Channel“-Methoden anwendet. Allzu flüssig sind Archivaufnahmen und Reenactment-Szenen ineinandergeschnitten – dabei wäre der Unterschied doch das Interessante. Allzu gleich ist das Setting für die Zeugen, deren individuelle Geschichte dem Erzählstrang untergeordnet wird. Allzu effektreißerisch treibt der Film auf seinen Höhepunkt zu und lässt keinen Raum für andere Fragen. Dankenswerterweise klammert er das allzu Offensichtliche völlig aus: jede pseudosentimentale Reflektion darüber, dass es die Twin Towers nun nicht mehr gibt. BARBARA SCHWEIZERHOF

„Man on Wire“. Regie: James Marsh. Großbritannien 2008, 94 Min.