ausgehen und rumstehen
: Das Vokabular der Erniedrigung

Die Erfahrung setzt dem Schreiben Grenzen, der Mangel an Erfahrung vor allem. Die Fantasie erscheint dagegen nicht leichtgängig und unbegrenzt, wie oft angenommen, sondern als brutal schweres Gerät im Schnee, ein Bild, das zum Beispiel den Verhältnissen da draußen vor dem Fenster geschuldet ist und nicht der Eislandschaft meiner Innenwelt. Die zu durchqueren erscheint mir ganz und gar nicht verlockend, wo Schmerz lauert, da geh’ ich nicht hin, Evolutionsgewinn nennt man das.

Andererseits: Wie lässt sich das Schauen in Arschgesichter schreibend verwerten? Manchmal ist der Gang von einer Bar in die nächste wie der Sturz in eine Jauchegrube. Plötzlich erblickst du nur noch Mangel, wo eben noch Schönheit, Sanftheit, Ringen um das richtige Wort waren. Jetzt nur noch Schall und Zigarettenrauch der Sorte, die man tagelang nicht aus den Kleidern bekommt. „Man möchte nur noch reinschlagen.“

Und nennen wir die Bedienung nun Schlampe oder dämliche Kuh, sie kratzt das nicht. Aber uns ist das wichtig. Wir wollen immer die Wahrheit, noch im Zorn wollen wir sie. Dabei stellen wir fest, wie sehr das Vokabular der Erniedrigung geprägt ist von der jahrhundertelangen Dominanz des Mannes. Für das Wort Schlampe etwa findet sich gar nicht leicht eine männliche Entsprechung, finden wir, Schwanz vielleicht und Wichser. Die Reduzierung der Person auf ihr Geschlecht wirkt verletzend. Als Blödmann, Arschloch oder Idiot beschimpft zu werden trifft einen nicht weit unter der Haut. Aber bei Hurenbock, Macho, Stecher usw. schwingt sogar Bewunderung mit. Promiskuität beim Mann bedeutet Stärke, bei der Frau Unsitte, Charaktermangel usw.

Von da geht das Gespräch weiter zu den Träumen. Treppen, die ins Unendliche führen, aber mit wegbrechenden Bohlen oder solchen, in denen man wie im Schlamm versinkt, unten das Ungewisse, die Tiefe, die droht, auch wenn darüber nichts Genaues in Erfahrung zu bringen ist. So ein Traum, sagt Martin dann. Ja, so ein Traum. Als träume jemand, er bringe seinen Vater um. So übercodiert, dass man nicht drüber sprechen möchte. Bemerkenswert sei das, sagt er, während Andrea dazu den Mund öffnet, aber schweigt. Und das finde ich auch.

So geht ein Abend zu Ende und eine Nacht. Mit Essen, Trinken und Reden unter Menschen, mal stehend, mal sitzend, immer schauend. In Gesichter, auf Distanz und ganz nah, fragend, beteuernd, lockend, abwehrend oder auch abwesend, gleichgültig, wenn momentweise doch was geschieht da drinnen, wenn der Schmerz wieder einen Weg gefunden hat aus den ständig nachstürzenden Eindrücken, wie die Ameise, die wir im Sand begraben, immer wieder herausfindet ins Freie, bloß, dass es für uns nicht Freiheit bedeutet, sondern das Gegenteil. Mit unseren metaphysischen Schmerzen, unserer seelischen Leidensfähigkeit, denke ich manchmal, sind wir wirklich die unfreisten Wesen, die rumlaufen.

Das bei unserem Besuch im Kim vorgestellte Computerspiel „Where Is My Heart“, das der sympathische Bernhard Schulenburg nach einem im Streit endenden Waldspaziergang mit seinen Eltern unter Berücksichtigung der Charaktereigenschaften aller drei Familienmitglieder entworfen hat, illustriert noch einmal ganz gut die oben skizzierte Bedeutung der Erfahrung für den Schaffensprozess im Allgemeinen und die des Naturerlebens im Besonderen.

Der Versuch, das Spiel im putzigen Arcade-Look anderntags auf meinem Rechner zum Laufen zu bringen, scheitert dann allerdings an der Inkompatibilität der Mac-Versionen, eine Stelle hinter dem Punkt nur, aber rasend effektiv. Die Gunst der Stunde zu nutzen und das Spiel an Ort und Stelle auszuprobieren war uns ja nicht eingefallen. Der Stromausfall im Kim war erfahrungsmäßig einfach viel zu interessant gewesen.

SASCHA JOSUWEIT