berliner szenen Senil

Zwischen Unbekannten

Ich war in Büchen umgestiegen. Einige junge Männer rauchten auf dem Weg zum anderen Bahnsteig. Der andere Bahnsteig stand fast in der Natur. Man ging durch eine Pforte, um zum anderen Bahnsteig zu kommen. Ich blieb vor der Pforte stehen und zündete mir auch eine an. Ich achtete darauf, meinen Rauch nicht in die Nähe anderer Fahrgäste wehen zu lassen. Während ich noch rauchte, gingen die meisten schon in den Wagen der Regionalbahn. Dann setzte auch ich mich in den Zug, auf einen Platz zwischen andere, die ich nicht kannte.

Ein paar Meter weiter, auf der anderen Seite des Ganges, nahm jemand die taz aus seinem Rucksack. Er trug alternative Klamotten. Ich stellte mir vor, er sei aus dem Osten. Solidarisch nahm ich auch meine taz aus der Tasche. Bis jetzt hatte ich ihn kaum angeguckt. Als ich ihn nun anguckte, sah er aus wie ein guter Freund von früher. Ich war mir aber nicht sicher. Immer wieder guckte ich ihn kurz an und hoffte, er würde sich zu erkennen geben. Das tat er aber nicht, sondern guckte nur manchmal ein bisschen ausdruckslos zurück. Vielleicht hatte er mich, als ich noch dabei gewesen war, mich auf meinem Platz einzurichten, auch angeguckt, gemeint, sich zu erinnern, und auf ein Zeichen von mir gewartet. Und war nun gekränkt darüber, dass ich ihm kein Zeichen gegeben hatte.

Wenn wir nur zu zweit hier gesessen hätten, wäre es einfacher gewesen. Zwischen unbekannten anderen kam mir die Frage: „Kennen wir uns nicht?“, nicht über die Lippen. So blieben wir schweigend sitzen und lasen in unserer Zeitung. Zu Hause spielte ich „Dr. Kawashimas Gehirnjogging“. Mein geistiges Alter lag bei 67 Jahren. Anfangs war ich noch älter gewesen.

DETLEF KUHLBRODT