Immer wieder aufbrechen

Mit 17 Jahren begann Ursula Mamlok, der Spur der Musik zu folgen und allein nach New York zu reisen. Heute lebt die Komponistin von Oboenkonzerten und Violoncelli-Suiten wieder in Berlin, alter Freunde wegen

VON CHRISTINE SCHMITT

Ausgerechnet den Rhythmus Berlins kann die Komponistin nicht in Noten wiedergeben. „Ich kenne ihn ja nicht mehr“, sagt Ursula Mamlok. Vor zwei Jahren erst hat sie New York verlassen, um wieder in ihrer Geburtsstadt Berlin zu leben. „Die Musik, die ich komponiere, steckt in meinem Kopf“, sagt sie. Manchmal beginnt sie mit dem Rhythmus, manchmal notiert sie auf dem karierten Papier – mit den klassischen fünf Notenlinien hält sie sich nicht mehr auf –, als Erstes das Hauptthema.

Beschäftigt ist die Komponistin, die morgen 86 Jahre alt wird, immer; sie schreibt neue Werke, spielt täglich mehrere Stunden Klavier und korrigiert ihre fertigen und älteren Werke so lange, bis der Computer sie fehlerfrei in den Drucker schickt. Im zurückliegenden Jahr wurden Werke von ihr in der Berliner Kabarett Anstalt, im Radialsystem, dem Jüdischen Museum, der Schwartzschen Villa, in der Hochschule für Musik Hanns Eisler und ein paar Orten mehr aufgeführt.

In ihren Händen hält sie gerade ein Paket aus dem dänischen Odense. „Das Orchester ist wohl fertig mit der Aufnahme meines Concertino für Streicher, Holzbläser und Schlagzeug“, sagt sie zufrieden. Ihre bei Edition Peters verlegten Kompositionen sind heute sehr gefragt, zahlreiche Einspielungen werden derzeit aufgenommen und bekannte Künstler wie der Oboist Heinz Holliger stehen im Kontakt mit ihr. „Er empfindet mein Oboenkonzert als Herausforderung und mag es“, sagt Ursula Mamlok zufrieden. Jüngst hat er es in Freiburg unter Leitung des Dirigenten James Avery aufgeführt.

Ursula Mamlok erzählt gerne aus ihrem Leben. Mehrmals musste sie neu starten und hat dabei für sich gelernt, dass „meine Heimat die Musik ist“. Denn Manhattan, wo sie 45 Jahre lang in einer Wohnung gelebt hat, ist nicht ihr Zuhause geworden, und Berlin war und wird es ebenso wenig. Dass sie nun wiedergekommen ist, sei mehr Zufall. Den Wunsch, in ihre alte Heimat zu gehen, habe sie nie gespürt.

Es waren eher pragmatische Überlegungen, dass sie hier eine passende Wohnung gefunden und einige Freunde hat. Aber bevor sie zurückkommen konnte, musste sie auch mit sich selber ins Reine kommen, da ihre jüdischen Großeltern und andere Angehörige in Konzentrationslagern ermordet worden waren. „Verbitterung hat keinen Sinn“, sagt sie heute. In ihren Kompositionen setzt sie sich mit der Schoah auseinander, wie beispielsweise in der „Kristallnacht“ für Saxofon und Klavier.

Während andere Mädchen mit Puppen spielten, beschäftigte sie sich lieber mit der Musik. Mit drei Jahren saß sie bei ihrer Oma am Klavier, wo sonst der Onkel Schlager spielte. Sie probierte die Tasten einfach aus. Und irgendwann ergaben die Töne eine Melodie. Von da an ließ es sie nicht mehr los. Als Neunjährige dachte sie sich kleine Sequenzen aus, mit elf komponierte sie ihre ersten Stücke. „Stundenlang. Ich war ganz fanatisch.“ Heimlich, als es Juden längst nicht mehr erlaubt war, besuchte sie die Konzerte der Berliner Philharmoniker. Die Musik hätte sie aufgesaugt, so Mamlok. Als Ursula Mamlock 16 Jahre alt war, konnte die Familie endlich nach Ecuador ausreisen. „Ein schreckliches Land, keine Kultur“, meint sie. So wollte sie auch von dort nur schnell wieder weg und schickte ihre handgeschriebenen Kompositionen nach New York.

Wenige Monate später bot ihr die Mannes School of Music in New York ein Stipendium an. Mit 17 Jahren machte sie sich allein auf den Weg – ohne Englisch zu können und mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. Sie fand ein möbliertes Zimmer in der Bronx und genoss ihr freies Leben. Als sie 24 Jahre alt, lernte sie ihren – mittlerweile verstorbenen – Mann, Dwight Mamlok, kennen. Auch er war ein Flüchtling. Der Kaufmann war ebenfalls vor den Nazis aus Hamburg über Schweden mit einem Kindertransport geflohen und schließlich in den USA gelandet.

Auch in der Musik wagte sie den Neuanfang: In den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts merkte sie, dass sie den klassischen Stil lediglich nachkomponierte. Mamlok erkannte, dass sie so nicht weitermachen konnte, sondern mehr über die zeitgenössische Musik lernen musste, um zu ihrem eigenen Stil zu finden. „Anfangs hat mir das gar nicht gefallen, aber ich habe mich bemüht und dadurch neue kompositorische Wege beschritten.“ Mit der Zwölftonmusik des Komponisten Arnold Schönbergs setzte sie sich intensiv auseinander und Edward Steuermann bezeichnet sie als einen ihrer wichtigsten Lehrer. Dann auch Roger Sessions, ein amerikanischer Komponist, und der Tscheche Ernst Krenek. Schließlich wurde Ursula Mamlok mit ihren Werken so erfolgreich, dass diese seitdem häufiger in der Carnegie Hall aufgeführt werden und sie mehrere Auszeichnungen erhielt. Vier bis fünf Werke komponiert sie im Jahr, meistens Auftragsarbeiten. Ihr Oeuvre besteht aus Orchesterstücken, Kammermusik – auch für außergewöhnliche Besetzungen –, Soloinstrumenten und Liedern. Das jüngste Werk von 2008 ist eine Suite für vier Violoncelli.

Bis vor drei Jahren unterrichtete sie, mehr als vier Jahrzehnte lang, an der New Yorker University und an der Manhattan School of Music Komposition. Das Komponieren war und ist ihr so wichtig, dass sie sich bewusst gegen Kinder entschieden hatte. „Ich wollte meine ganze Aufmerksamkeit der Musik widmen.“ Und sie bedauert, heute, mit über achtzig, nicht mehr so gut zu Fuß zu sein, dass sie zu allen Einspielungen ihrer Platten selbst fahren könnte.

Die Noten, die sie als Kind besaß, hat sie immer noch. Ebenso hat sie die Programme von vor über 70 Jahren aufgehoben, als sie verbotenerweise den Philharmonikern lauschte. Heute ist sie gerne wieder unterwegs, mag es, die Restaurants durchzuprobieren und in Konzerten den Rhythmen anderer Komponisten zuzuhören.