Fotografien von Pierre Bourdieu: Ohne verschämte Selbstverleugnung

Die Algerien-Fotos des französischen Soziologen Bourdieu zeigen eine Gesellschaft im Übergang und werfen einen ethnologischen Blick auf sie. Jetzt sind sie in Konstanz zu sehen.

Mit wachem Auge durch Algerien: der Soziologe Pierre Bourdieu. Bild: dpa

In der Lebensgeschichte Pierre Bourdieus stehen die "algerischen Jahre" 1955-1961 für einen Bruch und zugleich für eine Versöhnung mit sich selbst. Nach dem Wehrdienst im verhassten Kolonialkrieg wendet sich der viel versprechende junge Philosoph - "halb aus politischen Gründen", wie er später bemerkt - der ethnologischen Erforschung der algerischen Bevölkerung, besonders der Kabylen, zu.

In der Konfrontation mit diesen Menschen, ihren Riten, Traditionen, Ehrbegriffen und Kämpfen erfährt der junge Bourdieu eine ganz persönliche Entfremdung, die mit seiner Ausbildung an den Eliteinstitutionen des französischen Bildungssystems einherging: die Entfremdung von seiner eigenen Klasse, seiner bäuerlichen Herkunft, seinen Eltern. Der ethnologische Blick lässt ihn schließlich das verlorene Eigene "wiederaneignen", und zwar jenseits von "Populismus und verschämter Selbstverleugnung", wie er später rekapituliert. Die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Rassismus führt Bourdieu jedoch zur Entdeckung seines ureignen soziologischen Gegenstands: des subtilen und allgegenwärtigen "Klassen-Rassismus", der die französische Gesellschaft bis heute prägt.

Unerlässliches Medium der ethnologischen Selbsterkundung war die Fotografie. Diese verleugnet nie die verobjektivierende Distanz, die sie zwischen den Beobachter und seinen Gegenstand einzieht, und schützt so schon in ihrem medialen Arrangement vor identifikatorischen Illusionen. Gleichzeitig arbeiten die Fotografien aber auch mit der Distanz, die sie errichten; ihre Qualität bemisst sich an der Aufmerksamkeit für kleinste Details, die nur über die Distanzierung ins Auge treten. Die "Konversion des Blicks", so Bourdieu, die durch den ethnologischen Gebrauch der Kamera in die Wege geleitet wurde, blieb für den Rest seines Lebens irreversibel.

Trotzdem aber hat Bourdieu seine eigenen Versuche in der "illegitimen Kunst" der Fotografie lange dem Blick des Publikums entzogen. Erst am Ende seines Lebens erklärte er sich bereit, jene Fotos, die Jahrzehnte in den sprichwörtlichen Schuhkartons gelagert waren, auszustellen. Einhundertfünfzig dieser Mittelformat-Aufnahmen in Schwarz-Weiß werden unter dem Titel "Zeugnisse der Entwurzelung. Pierre Bourdieu in Algerien" nun noch bis zum 1. März in Konstanz gezeigt.

Bourdieus Fotos geben eine ziemliche Heterogenität an Motiven und Darstellungsarten zu sehen. Neben klassisch ethnologischen Sujets aus der bäuerlichen Lebenswelt dominieren urbane Straßenszenen. Algerien präsentiert sich hier als eine Übergangsgesellschaft, die zwar erste Zeichen einer "tiersmondialisation" nicht verleugnen kann - Bettler, Müllsammler, arbeitslose Tagelöhner -, für die aber Modernisierung noch ein realistisches Versprechen darstellt: der architektonische Modernismus der Tankstellen und Kioske, die Motorroller, die Kinos, der junge Mann im Stil des Pariser Cool, der mit einer verschleierten Frau flaniert. Keine der ProtagonistInnen dieser Fotos sieht vorrangig "entwurzelt" aus - nicht einmal die BewohnerInnen der Umsiedlungslager, mit denen die Franzosen die Guerilla bekämpfen wollten.

So wie sich in Bourdieus soziologischen und ethnologischen Studien die akribisch beobachtete Empirie bisweilen gegen die Generalisierungen sperrt, mit denen aus den Beobachtungen theoretisches Kapital geschlagen werden soll, so verweigern sich diese Fotos einer kategorisierenden Einordnung. Wo der retrospektive Blick des Soziologen auf die Fotos deren Objekte als "Entwurzelte" viktimisieren will, da zeigen die Aufnahmen des aufmerksamen Beobachters Bourdieu Menschen, die sich offensichtlich zurechtfinden in ihrem Leben und die dem Blick der Kamera standhalten.

Die ästhetische Qualität dieser Fotografien lässt eine souveräne Subjektivierung der Fotografierten in Erscheinung treten, die nicht zu übersehen ist. Vielleicht bleiben diese Fotos doch eher "Zeugnisse der Entwurzelung" ihres Fotografen - einer Entwurzelung, die sich nicht in Schuhkartons packen lässt und die gerade so den engagierten Soziologen Bourdieu in produktiver Unruhe gehalten hat.

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